Wie immer Chefsache
aus als im Fernsehen‹ – die ganze Nummer. Jetzt mache ich einen Bericht über sie und ihren Hund. Gleich für die erste Ausgabe.«
»Tolle Frau«, nickte Alex. »Aber Riesenauflage? Das läuft bisher doch nur hier in der Gegend.«
Mattes grinste: »Stimmt, aber wenn ich ihr das erzählt hätte, dann hätte sie niemals zugesagt.«
»Ist die Grundvoraussetzung für einen guten Redakteur, dass er Talent zum Lügen hat?«
»Habe ich schon erwähnt, dass ich Chefredakteur bin?«, sagte Mattes großspurig.
»Mit anderen Worten: der König der Lügner«, entgegnete Alex süffisant.
Mattes zog es vor, die Bemerkung grinsend zu übergehen. »Ich treff mich mit ihr in einem Café. Ich dachte, wenn sie den versifften Hinterhof mit der Redaktion sieht, dreht sie gleich wieder um. Außerdem gibt das lebendigere Fotos, hab ich ihr erzählt. Stylisch und ganz neu. Aber ich muss jetzt aufhören, ich will mir noch was kochen.«
»Hast du die Nummer vom Pizzaservice?«, lachte Alex.
»Hey, schnell was Feines zaubern kann ich selber!«, protestierte Mattes.
»Nimm die mit Zwiebeln, Peperoni und Oliven, die ist super!«
Mattes flog mit den Augen über die Liste in seiner Hand. »Nummer 86. O. k.«
Während er auf den Pizzaboten wartete, dachte er an Tante Gerlinde, deren Sorge es immer war, vom plötzlichen Hungertod bedroht zu sein. In ihrer Handtasche befanden sich Unmengen von Schokolade und Keksen »für Notfälle«, und sie liebte Fastfood, weil es das schnell und an jeder Ecke gab. Wenn Mattes bei ihr zu Besuch war, befand er sich in einem kulinarischen Paradies, in dem es Currywurst mit Fritten gab, dicke, möglichst doppelt belegte Hamburger und Pizza bis zum Abwinken. Beim familieninternen Wettbewerb um das bekloppteste Verhalten errang Tante Gerlinde immer wieder eine Spitzenposition. Bei 160 cm Körpergröße brachte sie mindestens 100 kg Lebendgewicht auf die Waage, was sie nicht davon abhielt, im Urlaub mit Bikini am Strand zu liegen. Am liebsten im damals noch tiefsten Jugoslawien, weil da die Sonne so schön brannte und es nicht so teuer wie an der Nordsee war. Im Sand neben sich hatte sie zwei Kühltaschen aus Hartplastik, die bis zum Rand mit Fressalien der fettesten Art und deutschem Bier gefüllt waren, sowie einen batteriebetriebenen, riesengroßen Kassettenrekorder, den ihr Sohn Marc täglich an den Strand schleppen musste. Während sie Kartoffelsalat von einem Plastikteller schaufelte und dazu Dosenbier trank, grölte aus dem Rekorder Marius Müller-Westernhagen in voller Lautstärke: »Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin!«, und Tante Gerlinde sang am lautesten bei der Textstelle »Dicke schwitzen wie die Schweine« mit und lachte schallend. Das Größte für sie war, wenn sie den verstohlen herüberguckenden Einheimischen in gebrochenem Englisch erklärte, dass dieses Lied eine Art Nationalhymne der Deutschen sei, und sie ihnen einige Zeilen übersetzte. Mattes fragte sich manchmal, ob das Bild, das Tante Gerlinde damals in Jugoslawien stellvertretend für die Deutschen abgegeben hatte, noch heute Nachwirkungen hatte. Marc jedenfalls hatte sich gerne mit einer eigenen Decke ein wenig abseits gelegt und alles vermieden, was erkennen ließ, dass er seine Mutter kannte. Der Pizzabote klingelte Mattes aus seinen Gedanken. Als er den Pappkarton öffnete, schnalzte er mit der Zunge. Alex hatte ihm den richtigen Tipp gegeben. Die Nummer 86 war genau das, was er jetzt brauchte.
A uch ohne Weckerklingeln war Mattes am nächsten Morgen wieder unerwartet früh wach und sofort mit den Planungen für das neue Magazin beschäftigt. »Es ist nicht gesund, so wenig Schlaf zu haben und vor 10 Uhr aufzustehen«, brummte er halblaut, aber zu seiner eigenen Verwunderung fühlte er sich topfit. Wieso Zeit im Bett verbringen, wenn es so viel zu tun gab? Vor allem, weil seine Eltern am Nachmittag kamen und es dann nicht mehr möglich war, konzentriert zu arbeiten. Außer, er nutzte vorher die Möglichkeit zur Flucht. Aber dann hätte er für die nächsten Tage Astrid am Hals, die keine Gelegenheit ungenutzt lassen würde, sich bei ihm über sein unsoziales Verhalten zu beschweren. Wie unsozial es von ihr war, hinter dem Fenster zu hängen, ihn vor dem Betreten seiner rettenden Wohnung abzufangen und mit Vorwürfen zu bedrängen, würde sie dabei wieder mal nicht einsehen, obwohl er es ihr schon mehrfach erklärt hatte. »Quatsch, halt den Mund!«, war ihr Argument, gegen das er noch nie angekommen war. Er beschloss,
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