Wie Jakob die Zeit verlor
Peinliches erlebt hätte, und ich sollte mich nicht wie eine hysterische Tunte benehmen.“ Arne hatte bemerkt, wie sich Jakobs Gesichtszüge selbst nach so vielen Jahren noch verhärteten.
„Ich dachte, ihr wärt euch sowieso nicht treu gewesen?“, hatte er gefragt. Und damit, ähnlich wie Marius, gemeint, was denn die ganze Aufregung sollte.
„Was hat das denn damit zu tun?“, hatte ihn Jakob angeblafft. „Glaubst du im Ernst, dass das vor Eifersucht schützt?“
Arne erinnert sich nicht mehr an das Ende von Jakobs Geschichte, aber während er den Rest seines Milkshakes auf einer verwitterten Parkbank trinkt, erinnert er sich, dass er sich damals gefragt hat, ob Jakob jemals seinetwegen zu einer solchen Eifersucht fähig sein würde.
Dezember 1988
Überraschend kündigt der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow bei der jährlichen UN-Hauptversammlung weitreichende einseitige Abrüstungsschritte an. Der Westen ist auf diesen Kurswechsel völlig unvorbereitet. Unterdessen bekräftigen Kuba und die DDR ihre Ablehnung der sowjetischen Perestroika-Politik.
Beim Bombenanschlag auf ein amerikanisches Passagierflugzeug am 21. Dezember 1988 über der schottischen Gemeinde Lockerbie kommen 270 Menschen ums Leben. Schon früh gibt es Hinweise auf eine Täterschaft Libyens, aber erst im Jahr 2002 übernimmt Machthaber Gaddafi indirekt die Verantwortung für den Anschlag und erklärt sich zu einer millionenschweren Abfindung an die Familien der Opfer bereit.
Benazir Bhutto wird Premierministerin von Pakistan. Damit steht erstmals eine Frau an der Regierungsspitze eines islamisch geprägten Landes. Im Dezember 2007 fällt die wegen Korruptionsvorwürfen umstrittene Politikerin einem Mordanschlag zum Opfer.
In Armenien kommen bei einem Erdbeben 25.000 Menschen ums Leben.
Im Interview mit einem Privatsender bezeichnet der neue bayerische Innenstaatssekretär (und spätere bayerische Ministerpräsident) Günther Beckstein uneinsichtige HIV-Positive als „Todesbomben“ und fordert Zwangsmaßnahmen mit den Worten: „Man kann niemanden entsprechend herumleben lassen.“ Die Deutsche Aids-Hilfe (DAH) verklagt den Politiker daraufhin wegen Volksverhetzung und Beleidigung – und verliert den Prozess ein knappes halbes Jahr später.
Am 1. Dezember 1988 wird weltweit zum ersten Mal der Welt-Aids-Tag begangen.
In Deutschland führt Bobby McFarrin mit „Don’t Worry, Be Happy“ die Charts an; in Großbritannien steht Cliff Richard mit „Mistletoe and Wine“ an der Spitze.
Jakob stolperte die Fuggerstraße entlang. Es war gar nicht so einfach, über die rutschigen Bürgersteige zu manövrieren, wenn man nicht mehr nüchtern war.
Er hatte den Abend im „Knast“ begonnen, der legendären Lederkneipe in der Nähe vom Wittenbergplatz, hatte in einer Stunde drei Flaschen Bier in sich hineingeschüttet und vier Schwänze geblasen. Er hatte keine Ahnung, wie die Männer aussahen, denen die Schwänze gehörten, aber das war unwichtig; er war einfach in die Hocke gegangen, hatte sich mit Poppers zugedröhnt und die Augen geschlossen. Jetzt, weit nach Mitternacht, zog er weiter durch den Schöneberger Kiez.
Es war kalt in Berlin, viel kälter, als es in Köln jemals wurde. Niemand hatte ihn gewarnt, wie eisig die Winter im Osten sein konnten, und er fror im Grunde ständig, eine Kälte, die zuerst seine Füße und seine Finger klamm werden ließ, dann die Ohren und die Nase. Seit er hier angekommen war, hatte er Schnupfen und eine hartnäckige Bronchitis.
Jakob wechselte die Straßenseite, lief vorbei an einer Kneipe mit grellbunten Weihnachtslichtern und ein paar Tannenzweigen in den Fenstern. Schnee türmte sich an den Rändern der Bürgersteige in schmutzigen, unansehnlichen Haufen, stob beim geringsten Windstoß wie feiner, nasser Staub von schweren Ästen, rieselte in dicken Flocken von einem grauschwarzen Himmel in seinen Nacken, knirschte unter seinen für dieses Wetter völlig unzureichenden Turnschuhen. Nachts formten sich Eiskristalle an den Fensterscheiben, und die Luft schnitt scharf in seine Kehle, wenn er einatmete.
Das Examensstipendium war ihm wie ein Geschenk Gottes in den Schoß gefallen. Im Spätsommer hatte er sich beworben. Hatte den Antrag eingereicht und dann komplett vergessen; die Trennungen von Marius und von Stefan hatten jeden Gedanken daran verdrängt. Eintausend D-Mark und ein vierwöchiger Aufenthalt in Berlin, damit er in der John-F.-Kennedy-Bibliothek der FU Dokumente einsehen
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