Wie Jakob die Zeit verlor
Marius‘ Brust breitmachten wie die Blasen einer kochenden Suppe, auf seinen Armen, den Oberschenkeln, sogar unter den Fußsohlen. Letzte Woche hatte seine Friseurin beim Haareschneiden ein Geschwür auf seiner Kopfhaut entdeckt und entsetzt die Schere sinken lassen, hatte die Hand vor den Mund gehalten und war zwei Schritte nach hinten gestolpert. Marius war aus dem Frisiersalon geflohen und Jakob hatte ihm versprechen müssen, ihm von nun an selbst die Haare zu schneiden.
„Aber ich hab das noch nie gemacht! Ich weiß gar nicht, wie das geht!“
„Das ist mir egal!“ Marius hatte ihn angebrüllt, außer sich vor Scham, und sich zitternd auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt. „Ich geh da nicht mehr hin. Sie hat mich angestarrt, als hätte ich die Pocken!“
Der Hautkrebs war auch im Gesicht wieder aufgetaucht, an den Schläfen, über den Augenbrauen, und keine noch so sorgsam und dick aufgetragene Schminke konnte die Geschwüre verdecken. Sie starrten Marius an, wenn er sich morgens wusch, wenn er beim Ausparken in den Rückspiegel blickte, wenn er sich in den Auslagen der Geschäfte im Fensterglas betrachtete.
Zusätzlich zu den Bestrahlungen erhielt Marius seit einiger Zeit Pentamidin, ein Medikament, das mit einem Inhalator eingeatmet wurde und ihn vor einer Lungenentzündung schützen sollte. Wenn er Marius nach der Behandlung keuchen und husten hörte, fragte sich Jakob allerdings, ob es wirklich sinnvoll war, ihn dieser Anstrengung auszusetzen. Ob ihn die Behandlung nicht zusätzlich schwächte. Aber diese Frage stellte er nicht laut, schon gar nicht Marius gegenüber.
„Bitte. Komm mit. Niemand wird etwas bemerken“, versuchte es Jakob noch einmal. „Heute ist Donnerstag, da ist sowieso wenig los.“
Mehr und mehr begann Marius sich abzukapseln vom schwulen Leben, sagte Geburtstagseinladungen ab, igelte sich ein in ihrer Wohnung. Wenn Jakob erzählte, was er an einem Samstagabend erlebt hatte, in den Kneipen, in der Sauna, am Aachener Weiher, setzte Marius ein gleichgültiges Gesicht auf und drehte den Ton des Fernsehers lauter, aber Jakob konnte die Traurigkeit in seinen Augen erkennen. Die Sehnsucht.
„Ich will nicht“, murmelte Marius. „Ich bin müde.“
Es stimmte. Marius war immerzu erschöpft in letzter Zeit, schon ein einziger Arzttermin beraubte ihn seiner Kräfte. Die fünf Etagen zu ihrer Wohnung bedeuteten für ihn eine Kraftanstrengung, die ihn minutenlang außer Atem brachte und oben angekommen auf dem Sofa zusammensacken ließ. Einmal die Woche, immer sonntags, riss er sich zusammen und besuchte seine Eltern für ein oder zwei Stunden, fuhr mit dem Wagen quer durch die Stadt, in der Hoffnung, sie erneut über seinen Gesundheitszustand hinwegzutäuschen, ihre Illusion des brav studierenden Sohnes aufrechterhalten zu können. Bei Kaffee und Kuchen – viel zu starkem Kaffee, den sein medikamentengeschädigter Magen schon lange nicht mehr vertrug – lächelte er gequält, wenn ihn seine Mutter mit dem neuesten Tratsch aus der Nachbarschaft versorgte, ihre Blicke dabei fragend, aber stumm an den Flecken in seinem Gesicht hängenblieben, sein Vater die Geschichten von früher zum hundertsten Mal erzählte, und er betete, dass sie weiterhin die Augen verschlossen vor dem Offensichtlichen. Wenn er zurückkehrte, kuschelte er sich wortlos an Jakob.
Und dennoch hofften sie. Hofften gegen die Angst, gegen die Verzweiflung, gegen jede Vernunft. Denn da waren auch Tage, manchmal sogar eine unfassbare, glorreiche ganze Woche, an denen es Marius gut ging. So gut, dass er den Feind in seinem Körper vergessen konnte und sie so taten, als führten sie ein normales Leben. Tage, an denen sie das Auto waschen oder ins Kino oder essen gehen konnten – aber keine fettigen Sachen wie zum Beispiel Reibekuchen, die früher einmal zu Marius‘ Lieblingsspeisen gehört hatten und die er nun nicht mehr bei sich behalten konnte, genauso wie scharfe Sachen oder stark mit Knoblauch versetzte Mahlzeiten –, Tage, an denen Marius sich sogar stark genug fühlte, um mit Jakob Sex zu haben. Manchmal kamen ihnen diese Momente tatsächlich wie die Wirklichkeit vor.
Sie sprachen nie über Stefan und über Berlin, hatten von Anfang an in stummem Einverständnis einen Bogen um diese Themen gemacht. Hatten dort wieder begonnen, wo sie im Sommer aufgehört hatten, wo Jakob Marius zurückgelassen hatte.
„Aber ich kann nicht einfach so weitermachen, als wäre nichts gewesen“, hatte Marius noch am Abend von
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