Wie Jakob die Zeit verlor
Jakobs Rückkehr behauptet.
Einen Tag später hatte er gesagt: „Du bist zurückgekommen, nur das ist wichtig.“
Und Jakob war dankbar gewesen, war es noch immer; nur manchmal wünschte er sich, heimlich, dass Marius sich ein wenig länger geziert, mehr Rückgrat gezeigt hätte. Er, Jakob, hatte es eigentlich nicht anders verdient.
Doch die Wirklichkeit hatte ihre eigenen Methoden, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen: Im Februar hatten sie Klaus beerdigt, der an einer HIV-bedingten Enzephalopathie elendig zugrunde gegangen war. Das Virus hatte die Blut-Hirn-Schranke überwunden und sein Gehirn befallen, hatte ihn erst innerhalb weniger Monate zu einem dementen Schwachkopf und schließlich zu einem vollständigen Pflegefall gemacht, der seinen Freund nicht mehr erkannte und mit ausdrucksloser Miene die Wand fixierte. Nur sein Herz hatte weiter und weiter geschlagen, stoisch und gnadenlos, bis Helmut es nicht mehr ausgehalten und Klaus eines Nachts ein Kissen ins Gesicht gedrückt hatte, genauso, wie sie es bei Ausbruch der Krankheit besprochen hatten. Der Arzt hatte als Todesursache „Herzversagen“ auf dem Totenschein vermerkt. Am Abend nach der Trauerfeier hatte sich Marius im Bett ganz klein gemacht und geflüstert: „Es kommt näher.“
„Bitte“, versuchte es Jakob jetzt ein letztes Mal. „Es wird dir guttun, unter Menschen zu sein.“
Marius seufzte. „Aber nur dir zuliebe.“ Mühsam stand er auf und zog seine Jeans an. Jakob erschrak, als er bemerkte, wie sehr die Hose an seinen Beinen schlotterte, in die er sich früher immer hatte hineinquetschen müssen.
„Hast du wieder abgenommen?“
„Nur zwei Kilo.“
„Du musst mehr essen.“
„Ich müsste weniger Durchfall haben“, korrigierte ihn Marius. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich mehr Zeit auf dem verdammten Klo als im Bett verbringe.“ In den letzten Monaten, nach dem erneuten Auftauchen der Kaposi-Sarkome, war er zum Zyniker mutiert, als ob ihn ein Panzer aus Bitterkeit und Hohn vor den Erniedrigungen bewahren konnte, die das Virus für ihn bereithielt. Und er war launisch geworden, schnell zu verärgern, aber dann auch wieder traurig, sodass ein falsches Wort ihn in Tränen ausbrechen lassen konnte. Manchmal, wenn Marius sich unbeobachtet glaubte, bemerkte Jakob seinen Blick, sah den Neid in seinen Augen. Immer öfter befürchtete er eine Explosion, einen Wutausbruch („Du bist nicht gezeichnet! Du bist nicht entstellt!“), und gleichzeitig sehnte er ihn herbei, denn dann wäre er den nagenden Verdacht losgewesen, dass Marius gar nicht kämpfte.
„Laufen oder mit dem Wagen?“, fragte er. Es war eine Ermessensfrage. Mit dem Auto waren sie in fünf Minuten in der Innenstadt, brauchten aber womöglich eine halbe Stunde, um einen Parkplatz zu finden. Wenn sie zu Fuß gingen, dauerte der Weg fünfzehn Minuten.
„Auto“, sagte Marius und zog Schuhe an. „Wenn wir laufen, bin ich schon platt, bevor wir ankommen.“
Jakob zögerte. „Ich … bist du denn sicher, dass es sich lohnt? Ich meine, ich wollte nicht nach zehn Minuten schon wieder nach Hause zurück.“
Marius starrte ihn an, und Jakob merkte, wie sehr er sich beherrschte. „Ich gebe doch mein Bestes“, flüsterte er, dann verbarg er sein Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.
„Aber so war das doch gar nicht gemeint“, entschuldigte sich Jakob. „Ich hab doch nur …“ Hilflos sah er auf Marius hinab, stumm kniete er sich vor ihn und nahm ihn in die Arme. „Wir müssen nicht weggehen, wenn du nicht willst. Es ist nicht wichtig.“
„Doch“, antwortete Marius und zog die Nase hoch. „Ich will.“
Beppo stand hinter dem Tresen, als sie zur Tür hineinkamen, und Jakob begrüßte ihn mit zwei Küssen auf die Wangen.
Im Lauf der Jahre hatte Beppo mehrfach seinen Arbeitgeber gewechselt, jetzt war er hier im „Zipps“ an der Hohe Pforte beschäftigt, einer schwulen Bar, die einen Großteil ihres Jahresumsatzes während der Karnevalszeit machte, insbesondere dann, wenn der Rosenmontagszug sich auf seinem traditionellen Weg direkt an der Eingangstür vorbeischlängelte. Dann standen die Männer vor und in der Kneipe dicht gedrängt, und das Bier wurde in Plastikbechern ausgeschenkt. Die ersten zwei Jahre ihrer Beziehung hatten Jakob und Marius ausgiebig hier Karneval gefeiert, hatten mit Sascha und Helmut und Klaus geschunkelt und mit fremden Kerlen geknutscht. Marius hatte sich besoffen halb ausgezogen und auf dem Tresen getanzt, unter dem
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