Wie Jakob die Zeit verlor
Gejohle der ganzen Kneipe, und später hatte er es mit Jakob auf der Toilette getrieben, bis jemand empört an die Tür gehämmert und gerufen hatte: „Mädels, macht voran! Hier sind nur Quickies erlaubt.“ Wenn Jakob daran zurückdachte, schien es ein halbes Leben her zu sein.
„Alles gut, ihr beiden?“, fragte Beppo.
„Ja“, log Jakob pflichtschuldig, und Marius zuckte verhalten mit den Schultern, während Beppo ihnen zwei Kölsch hinstellte.
Jakob hatte recht gehabt mit seiner Annahme, dass an diesem Abend kaum etwas los sein würde: Außer ihnen befanden sich gerade mal fünf Gäste in der Kneipe. Während Marius sich auf einen Barhocker setzte, begann Jakob ein Gespräch mit dem Barkeeper.
„… irgendwann werde ich das alles hier drangeben“, sagte Beppo und zündete sich eine Zigarette an. „Ich mach das jetzt insgesamt fast zehn Jahre. Ein richtiger Job so von neun bis fünf, das wäre mal ’ne Abwechslung. Und freie Wochenenden natürlich. Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, ein freies Wochenende zu haben.“
Jakob betrachtete Beppo genauer. Die Jahre in der Gastronomie hatten ihren Preis gefordert; die Folgen des Alkohols und der Zigaretten verliehen seiner Haut einen gelblichen Schimmer, sein Gesicht sah zermürbt aus wie eine getrocknete Aprikose.
„Aber das hier würde dir fehlen“, gab Jakob zu bedenken und deutete vage in den Raum hinein.
„Was denn?“, erwiderte Beppo verächtlich. „Jede Woche dieselben Tunten, jede Woche dieselben Dramen und dasselbe dumme Geschwätz?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hab die Schnauze voll. Die Schwulen können mir alle gestohlen bleiben.“
Marius beugte sich an Jakobs Ohr. „Können wir gehen? Bitte?“ Seine Stimme zitterte.
„Aber wir sind doch gerade erst …“
„Sie glotzen mich an. Sie reden über mich.“
Jakob sah sich um. Zwei Gäste saßen ein paar Hocker von ihnen entfernt am Tresen und starrten ins Leere, halbvolle Biergläser in den Händen; Jakob war ziemlich sicher, dass sie seine und Marius‘ Anwesenheit kaum registriert hatten. Die drei anderen, etwas jüngeren Schwulen standen in einer Ecke neben den Toiletten, die Köpfe zusammengesteckt, tuschelnd, hin und wieder einen verstohlenen Blick zu Marius riskierend. Ein unterdrücktes Lachen schallte zu ihm herüber, verletzend, beschämend, und ein Halbsatz, zu laut geflüstert, um überhört werden zu können, roh und unbarmherzig: „… hat bestimmt Aids, sieht man doch.“
„Soll ich sie rausschmeißen?“, bot sich Beppo an.
„Ich gehe hin und sag ihnen die Meinung“, erklärte Jakob.
„Nein, nicht!“ Marius hielt ihn am Ärmel fest. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. „Das macht alles nur noch schlimmer. Lass uns zahlen.“
Beppo winkte ab, als Jakob sein Portemonnaie zückte. „Geht aufs Haus.“ Dann drückte er Marius demonstrativ einen Kuss auf die Lippen. „Lass dich nicht unterkriegen. Das sind nur Arschlöcher“, sagte er.
Auf dem Weg nach Hause sagte Marius kein Wort. Er schwieg, während sie sich die Zähne putzten, er schwieg, während Jakob den Wecker stellte, und er schwieg, während Jakob eine Kerze neben dem Bett anzündete. Erst als sich Jakob an ihn schmiegte und den Kopf auf seine Brust legte, schien er seine Sprache wiederzufinden.
„Wie kannst du mich nur lieben?“, fragte er leise. „Ich sehe aus wie ein Monster.“
„Das tust du nicht“, entgegnete Jakob. Am liebsten hätte er seinen Tränen freien Lauf gelassen, aber er musste stark sein, für sich und für Marius. Er hatte diese Aufgabe akzeptiert, als er zu ihm zurückgekehrt war, hatte diese Rolle angenommen, und er würde sie zu Ende spielen. Mit dem Zeigefinger fuhr er über das leicht erhabene Geschwulst neben Marius‘ linker Brustwarze, so groß wie ein Seifenstück aus einem Hotelzimmer, so dunkel wie eine reife Kirsche, fühlte das angespannte und seltsam harte Gewebe unter seiner Fingerspitze. Er spürte, wie Marius den Atem anhielt.
„Wenn ich dich ansehe, sehe ich keine Kaposis“, sagte er. „Ich sehe nur dich.“
„Wieso Arne?“, wiederholt Jakob. „Weil er so heißt, natürlich. Warum nennst du ihn Alexander? Und woher kennt ihr euch überhaupt?“
„Mir hat er sich als Alexander vorgestellt“, erklärt Philip. „Ich hab ihn neulich nachts am Heumarkt abgeschleppt. Er war total schüchtern.“
Jakob schließt die Augen. Auf einmal hat er den bitteren Geschmack von Galle im Mund. Wie groß sind die Chancen, dass Arne und er denselben
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