Wie Jakob die Zeit verlor
Coming-out zur selben Zeit gehabt, wusste Jakob keine Antwort. Aber wie sollte er Arne auch erklären, dass der wahre Grund für seine Ablehnung von Präservativen darin liegt, dass er am liebsten schreien und toben möchte, wenn er ein Gummi sieht. Weil sie symbolisieren, was er verloren hat. Wen er verloren hat.
Jakob schrickt zusammen, als er das diskrete Tippen von Handytasten hört. Er hat gar nicht bemerkt, dass sich zwei Stühle von ihm entfernt jemand in seine Reihe gesetzt hat. Unauffällig mustert er den Mann, obwohl … Mann ist zu viel gesagt, in Jakobs Augen ist er noch fast ein Kind. Eine blaue Strickmütze, die einen wilden, strohfarbenen Haarschopf nur unzureichend bändigt, Jogginghose, Turnschuhe und ein T-Shirt, über dem eine dicke Silberkette baumelt. Der Junge ist höchstens fünfundzwanzig. Auf dem Stuhl neben ihm liegt achtlos hingeworfen eine Bomberjacke. Mit Mühe kann Jakob im faden Licht des Pornofilms das weiche Gesicht des Jungen erkennen und den Bartflaum, der seine Wangen verhüllt. Unwillkürlich muss er an das zerrupfte Federkleid eines Kükens denken und lächelt. Dann registriert er, dass die Geräusche auf der Klappe verstummt sind, und zählt eins und eins zusammen. Er wusste nicht, dass hier auch Stricher aufkreuzen.
Der Junge tippt weiter auf seinem Handy herum, als hätte er seine Umgebung völlig vergessen, doch dann bemerkt Jakob, dass ihm zwischendurch verstohlene Blicke zugeworfen werden, Blicke wie kleine Pikser mit einer Nadel oder Reißzwecke. Für einen Moment weiß Jakob nicht, wie er reagieren soll, was diese Blicke bedeuten könnten, aber bevor er sich entscheiden kann, ist der Junge aufgerückt und beugt sich zu ihm herüber. Sein Atem riecht nach Tabak und Pfefferminz.
„Einen Zehner, dann blas ich ihn dir.“
Jakob ist sprachlos. Das ist wahrscheinlich der Tiefpunkt seines bisherigen Lebens. Jetzt ist er wohl offiziell in die Reihen der dirty old men aufgenommen worden, der alten Männer, die sich früher dem Hörensagen nach in den Stadtparks nur mit einem schmuddeligen Trenchcoat bekleidet vor kleinen Kindern entblößt haben, der alten Männer, die sich die Zuneigung eines anderen mit Geld erkaufen. Gleichzeitig ist er verwirrt: Er dachte immer, es funktioniert andersrum. Dass man bezahlt, um einem Stricher den Schwanz zu blasen. Außerdem findet er zehn Euro eigentlich zu wenig für so etwas. Oder hat er da einfach falsche Vorstellungen?
Schließlich schafft er es, den Kopf zu schütteln. „Ich zahle nicht für Sex“, murmelt er. „So weit bin ich noch nicht.“
Der Junge zuckt gleichgültig mit den Schultern und begibt sich wieder auf seinen alten Platz, ohne Jakob eines weiteren Blickes zu würdigen. Jakob bleibt gedemütigt und mit hämmerndem Herzen zurück. Er ist froh, dass in der Dunkelheit niemand die roten Flecken auf seinen Wangen sieht. Am liebsten würde er aufstehen und den Ort seiner Erniedrigung verlassen, aber er bringt den Mut nicht auf, sich an dem Jungen vorbeizuschlängeln. Stattdessen starrt er auf die Leinwand, ohne zu sehen, was dort passiert.
„Okay, war nur ’n Versuch“, hört er plötzlich neben sich. „Ich mach’s auch umsonst.“
Jakob dreht den Kopf und sieht, dass der Stricher wieder neben ihm sitzt und blank gezogen hat: Seine Jogginghose hängt auf seinen Knien.
„Geh weg“, zischt ihn Jakob an. „Ich will kein Mitleid von dir.“
„Ey, Mann, ich steh voll auf Ältere mit ’n bisschen Bauch. Ehrlich.“
„Willst du mich verarschen?“
„Keine Spur.“ Zum Beweis seiner Ernsthaftigkeit geht der Junge vor ihm auf die Knie und nestelt an Jakobs Hose, als wären sie ganz allein im Raum. Er scheint keinerlei Scham zu empfinden und die Blicke der anderen Männer geradezu zu genießen. Für einen winzigen Augenblick wehrt sich Jakob, dann lässt er es geschehen und schließt die Augen.
Als es vorbei ist – und es geht viel schneller vorbei, als Jakob das eigentlich möchte –, will er dem Jungen dann doch plötzlich Geld geben, fingert umständlich einen Zehneuroschein aus der Hosentasche und versucht, ihm das Geld in die Hand zu drücken. Aber der Stricher ist schon aufgestanden, hat seine Jogginghose wieder hochgezogen und justiert seine Strickmütze. „Du willst kein Mitleid, und ich keine Almosen, Opi“, sagt er. Gleich darauf ist er verschwunden und lässt Jakob überrascht zurück.
Er steht im Schlafzimmer ihrer alten Wohnung, der Wohnung, die Marius und er mit so viel Anstrengung und Aufwand
Weitere Kostenlose Bücher