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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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monatelang in Eigenregie saniert haben, die sie von einem alten, ungenutzten Speicher in ihr erstes – und einziges – gemeinsames Zuhause verwandelt hatten. Über ihm sind die Holzbalken des spitz zulaufenden Daches zu sehen, die zum Vorschein kamen, als sie die Decken mit einem Vorschlaghammer, Geißfuß und Meißel herausgerissen haben. Marius liegt auf dem Bett, neben seinem Kopf hat sich Truman, ihr Kater, in die Bettritze gekuschelt. Marius’ linkes Bein ist eingegipst, von der Wade bis zum Oberschenkel. Er trägt eine ausgeleierte, alte Boxershorts und eines der karierten Holzfällerhemden, die er so liebt, weil er glaubt, dass sie ihn männlicher wirken lassen. Jakob durchströmt ein ungeheures Gefühl der Erleichterung, als er den Gips sieht.
    „Du bist ja gar nicht tot!“, ruft er aus. „Du hast dir nur das Bein gebrochen! Warum hast du mir das nicht gesagt?“
    Eine Hand rüttelt an seiner Schulter. „Wach auf, Jakob!“
    Desorientiert setzt er sich auf. Sein Kopfkissen ist nass, genau wie sein Gesicht. „Was ist passiert?“, murmelt er.
    „Du hast geträumt“, seufzt Arne und knipst die Nachttischlampe an. Er sieht auf die Uhr: Es ist kurz vor vier. „Wieder derselbe Traum?“
    Jakob nickt. „Immer derselbe. Wenn ich von ihm träume, dann immer nur diesen Traum.“ Er wischt sich die Tränen von den Wangen und stolpert verschlafen ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen.
    Arne steht im Türrahmen und beobachtet ihn, die Arme vor der Brust verschränkt. Rötlicher Bartschatten zeichnet sich auf seinen Wangen ab. „So geht das nicht weiter“, sagt er plötzlich.
    „Was meinst du?“, fragt Jakob.
    „Das mit dir.“
    „Was soll ich denn dagegen tun?“ Jakob sieht Arne im Spiegel an, das Wasser auf seinen Händen ist kühl. Er lässt es über seine Handgelenke rinnen, durch seine Finger. „Glaubst du, es macht mir Spaß, immer an ihn erinnert zu werden?“
    Arne schüttelt den Kopf. „Ich kann das nicht mehr.“
    „Was kannst du nicht mehr?“ Jakob hält inne und fühlt, wie er anfängt zu zittern. Jetzt, wo der Moment da ist, hat er ihn kalt erwischt, unvorbereitet, verletzbar.
    „Das hier. Das alles.“ Arnes Hände umschließen in einer vagen Geste das Badezimmer, die Wohnung, Jakob. „Du bist gar nicht wirklich hier, du bist immer noch bei ihm. Ich dachte … ich dachte, die Jahre mit mir hätten eine Bedeutung für dich, aber du bist im Grunde immer noch mit Marius zusammen.“ Er klingt verbittert, als er den Namen seines Vorgängers ausspricht.
    „Das ist nicht wahr“, erwidert Jakob, aber er weiß selbst, dass er sich nicht überzeugend anhört.
    „Er ist nicht mehr da. Seit über zwanzig Jahren!“
    „Erzähl mir nichts, was ich nicht schon weiß!“
    „Wann wirst du endlich aufhören, um ihn zu trauern? Wann wirst du endlich wieder anfangen zu leben?“ Jakob schweigt. „Verstehe“, sagt Arne resigniert. Dann dreht er sich um, geht ins Schlafzimmer und beginnt eine Tasche zu packen.
    Jakob läuft hinter ihm her und fragt: „Wo willst du hin?“
    „Weg“, antwortet Arne.
    „Aber es ist mitten in der Nacht!“
    Arne ist dabei, sich anzuziehen, und wirft gleichzeitig wahllos Klamotten in die Tasche. „Ist mir egal!“, schreit er und reibt sich die Augen. Seine Bewegungen werden immer hektischer. Es ist, als könnte er plötzlich nicht schnell genug entkommen.
    „Du gehst, weil du einen anderen Kerl hast! Stimmt’s? Du hast jemand anderen kennengelernt! Irgendwo auf deinen Dienstreisen.“
    Arne hält inne, schnappt noch schnell seinen Laptop und fixiert Jakob mit einem kalten Blick. „Red keinen Scheiß.“
    Und dann knallt eine Tür und Jakob ist allein.
    „Was, glauben Sie, hat ihn dazu getrieben, Sie zu verlassen?“ Silky Legs hat die Beine übereinandergeschlagen und sieht Jakob an. Ihr Kugelschreiber schwebt erwartungsvoll über dem Notizblock.
    Die Sitzung ist ein Notfall. Jakob sieht furchtbar aus, seine Augen sind blutunterlaufen, und seine Gesichtsfarbe ähnelt der eines Hefeteigs. Gleich am Morgen hat er angerufen, noch vor neun Uhr, und um einen Termin außer der Reihe gebeten. Eigentlich hat er darum gebettelt. Die Nacht über hat er kein Auge mehr zugemacht und seine Stimmung schwankt zwischen Wut, grenzenloser Traurigkeit und Selbstmitleid.
    „Er hat was mit einem anderen.“
    „Ist das Ihre Vermutung oder wissen Sie es?“
    „Meine Vermutung“, gesteht Jakob ungnädig. „Aber ich habe bestimmt recht. Er hat es zugegeben. Jedenfalls mehr

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