Wie Jakob die Zeit verlor
zerrissenen Land.
Als Vergeltung für die Beschädigung einer US-Fregatte durch eine vom Iran gelegte Mine im Persischen Golf beschießen US-Kriegsschiffe zwei iranische Bohrinseln und unterstützen so indirekt den Irak. Damit geht der erste Golfkrieg (1980-1988) in seine letzte Phase. Im August erklärt sich der Iran zur Anerkennung eines Waffenstillstandsabkommens bereit.
In der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen erstarkt die äußerste Rechte unter Jean-Marie Le Pen und kann beinahe 15 Prozent der Stimmen gewinnen. Aus der Stichwahl Anfang Mai zwischen Jacques Chirac und François Mitterand geht Amtsinhaber Mitterand als Sieger hervor.
In Washington tagt eine auf öffentlichen Druck eingerichtete Kommission, die den Umgang der Regierung mit der Aids-Epidemie untersuchen soll. Im Juni 1988, als die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegt, wird die angesehene New York Times kommentieren, dass die Maßnahmen der Reagan-Administration zu Aids durch Vorurteile gegen die mit dem Virus Infizierten geprägt waren. Die Kommission selbst wird in ihrem Bericht zu dem Schluss kommen, dass die Reaktionen der Regierung langsam, zögerlich und unausgewogen waren.
In München wird ein HIV-infizierter Mann wegen Geschlechtsverkehrs ohne Kondom mit einer 22jährigen Frau zu einer einjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Die Frau hatte sich nicht angesteckt. Der Mann wurde der versuchten gefährlichen Körperverletzung für schuldig befunden.
Unterstützt von Hiobsbotschaften einer Landtagskommission aus Bayern, nach denen das Ergebnis jedes dritten Aids-Tests falsch ist, macht der Spiegel Stimmung gegen den angeblich noch immer unsicheren HIV-Test.
Mit dem Gewinn des Grand Prix Eurovision de la Chanson startet Celine Dion ihre Weltkarriere.
In England stehen die Pet Shop Boys mit „Heart“ ein letztes Mal an der Spitze der Charts; in Deutschland wird die Hitparade von Kylie Minogue mit „I Should Be So Lucky“ angeführt, eine weitere Nummer des Produzententrios Stock/Aitken/Waterman, die mit ihren Titeln seit Jahren die Charts dominieren.
Marius war früh ins Bett gegangen, aber Jakob kam nicht zur Ruhe. Für einen Augenblick betrachtete er das friedliche Gesicht seines Freundes neben sich, dessen Konturen er blind hätte nachzeichnen können. Die vollen Lippen, die früher oft zu einem spöttischen Lächeln verzogen waren, ein Lächeln, das ihn gereizt und herausgefordert hatte, aber jetzt nur noch selten hervorblitzte. Die mit dunklem Flausch behaarten Wangen und die noch immer nicht behaarte Stelle über der Oberlippe, die gleichmäßigen, ovalen Augenbrauen. Selbst an das erste Kaposi-Sarkom in Marius’ Gesicht hatte er sich gewöhnt, diesen rötlich violetten Fleck an der Schläfe, ein Brandzeichen, ein Schandmal. Das Gewebe darüber war leicht erhaben, wenn man mit der Fingerspitze darüberfuhr, der Tumor walnussgroß und von einem kreisrunden rot schimmernden Kranz umgeben, seitdem Marius zur Bestrahlung ging.
Und doch wurde ihm dieser Mann immer fremder. Manchmal kam es ihm vor, als paddelten sie seit langer Zeit auf zwei Flößen nebeneinander einen Fluss hinunter, Flöße, die sie erst vor kurzer Zeit miteinander verbunden hatten, um noch enger zusammmenzusein. Und plötzlich waren sie in eine Strömung geraten, die an der Verbindung zerrte, die Knoten löste. Marius hatte den Sog der Strömung noch nicht bemerkt, war noch zu erschöpft vom Festzurren der Taue, und er, Jakob, saß seltsam tatenlos daneben und freute sich insgeheim auf die Zeit, in der sein Floß allein neuen Ufern entgegenschwamm.
Jakob seufzte. Er hatte keine Ahnung, woher diese Bilder stammten und warum sie sich in seinen Gedanken breitmachten. Dabei hatte er alles, was er sich jemals erträumt hatte. Alles, außer … Ärgerlich zuckte er im Dunkeln mit den Schultern. Es war müßig, darüber nachzugrübeln, wenn er nicht einmal ein Wort für seine Unzufriedenheit, seine Unruhe fand. Wahrscheinlich brauchte er nur Ablenkung. Nur ein paar Minuten die Nähe eines anderen spüren, nur ein paar Momente den Kopf ausschalten, sich treiben lassen, vergessen. Leise stand er auf, zog sich an, scheuchte den Kater von der Wohnungstür weg und eilte die Treppen nach unten.
Die Nacht empfing ihn mit einer schmalen, zunehmenden Mondsichel und einem fast wolkenlosen Himmel. Seit Tagen wehte ein lauer Wind aus dem Süden endgültig den Frühling herbei. Jakob war fast zu warm in seiner Lederjacke.
Die letzten Wochen
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