Wie Jakob die Zeit verlor
Münder, die tuschelnd Halbwahrheiten, Gerüchte und Meinungen verbreiteten: „Der hat das doch gehabt, diese Schwulenseuche“, „Und die da? Sind das alles ehemalige Bettgenossen? Haben die das jetzt auch?“, „Wegen mir sollte man die alle wegsperren.“
Und dann die Ansprache des Priesters, gespickt mit Allgemeinplätzen, Banalitäten und Lügen. Dass Sascha ein verirrtes Schaf gewesen sei, für den die Kirche in ihrem großen Herzen einen Platz gefunden habe. Dass die Nachricht, an Krebs erkrankt zu sein, ihn aus der Bahn geworfen und zu einem Kurzschluss verleitet hatte. Dass man mit der Familie fühle. Krebs! Marius und er hatten ihren Ohren nicht getraut. Zusammen mit den anderen Freunden hatten sie nicht mehr gewartet, bis die Familie Sascha zu Grabe trug, sondern waren geflohen, so schnell sie nur konnten, so wie Sascha sieben Jahre zuvor. Zurück in Köln hatten sie sich gemeinsam besoffen und Geschichten erzählt von Sascha, wie er wirklich gewesen war. Eine Schlampe, die keine Sauerei ausgelassen hatte. (Zum Beispiel die Nacht, in der er völlig betrunken und splitternackt aus dem Darkroom gekrochen war, komplett durchgevögelt, aber mit einem breiten, zufriedenen Grinsen im Gesicht.) Ein Freund, auf den man sich verlassen konnte. (Zum Beispiel die fünfhundert Mark, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, Martin geliehen hatte, als der plötzlich ohne Job dastand und seine Miete nicht zahlen konnte.) Danach hatten sie Sascha zugeprostet und sich versprochen, ihn nie zu vergessen. Und sich ein wenig besser gefühlt.
Für einen ganz normalen Wochentag waren ziemlich viele Kerle auf der Pirsch. Anscheinend hatte der Frühling nicht nur bei Jakob Hormone und Adrenalin freigesetzt. Zwei oder drei Männer hatte er schon gesehen, die ihn interessieren könnten, aber er wartete noch ab, genoss die abschätzenden, taxierenden Blicke. Seit er mit Marius zusammen war, fand er das Jagen noch spannender, weil er wusste, dass es nicht unbedingt sein musste, weil zu Hause jemand auf ihn wartete. Und das spürten auch die anderen Männer. Es war, als umgäbe ihn eine Aura, die ihre Blicke auf ihn zog, ihn begehrenswerter, schöner, geiler erscheinen ließ. Einer schlich um ihn herum, vielleicht in seinem Alter, aber unsicher, schüchtern, mit bettelnden Augen, fasste sich dann endlich ein Herz, trat zu Jakob und fragte: „Habe ich eine Chance?“ Dabei starrte er auf den Boden, als erwartete er demütig Jakobs Urteilsspruch. Und Jakob hatte fast Mitleid, aber dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Sorry, nicht mein Beuteraster.“ Eine Formulierung, mit der er niemanden vor den Kopf stieß; er hielt nichts davon, jemanden mit einer schnippischen Bemerkung abblitzen zu lassen. Der Mann nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, murmelte ein „Okay“, schenkte ihm ein flüchtiges, bedauerndes Lächeln und verschwand. Jakob legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne.
Saschas Tod hatte auch bei Marius etwas verändert. Endlich, nach mehr als einem Jahr, hatte er seinen Mut zusammengekratzt und war mit schlotternden Knien erneut zur Blutkontrolle gegangen, hatte den stirnrunzelnden Ärzten sein Kaposi-Sarkom gezeigt. Jakob hatte ihn begleitet und die Moralpredigt mitangehört. Dass Marius unverantwortlich gehandelt habe. Dass er schon viel früher hätte kommen sollen. Insgeheim fühlte Jakob sich bestätigt; die Ärzte wiederholten nur, was er monatelang schon gesagt hatte. Aber er hatte auch Angst bekommen, denn die Skepsis in den Augen der Ärzte war unübersehbar. Marius’ Werte waren im Keller, die Helferzellen auf knapp 100 abgesackt. Seit einer Woche bekam er Bestrahlung gegen die Kaposis auf seiner Haut, und niemand wusste, ob die Behandlung etwas nutzen würde, immer mehr Flecken wuchsen wie kleine Beulen auf seinem Körper. Auf der Brust: zwei. Auf den Oberarmen: drei. Auf dem rechten Oberschenkel: einer. Im Gesicht: zum Glück bisher nur einer. Und seit gestern nahm er Retrovir, das Aids-Medikament, das Jakob schon seit Monaten schluckte. Er hatte versucht, Marius die Angst zu nehmen, hatte ihn darauf hingewiesen, dass er, Jakob, keinerlei Nebenwirkungen verspürte, aber Marius war noch immer verängstigt. Er vertraute den Pillen nicht. Jakob hatte gesagt, er müsse die Tabletten als seine Verbündeten ansehen, Waffenbrüder im Kampf gegen das Virus. Stattdessen betrachtete Marius sie als einen zusätzlichen Feind, der seine Flanke bedrohte, während er sich auf die Offensive von
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