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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Frage für sich. Vielleicht hatte Silky Legs auch nur eine Veränderung nötig.
    Die Therapeutin blättert durch die Aufzeichnungen, die Jakob mitgebracht hat. Sie greift zu dem obligatorischen Kuli, haucht ihn an, und Jakob zuckt zusammen, weil er glaubt, sie würde seine Erinnerungen an Marius mit Randbemerkungen beflecken, würde ihm wie bei einem Diktat Grammatik- und Rechtschreibfehler anstreichen.
    „Keine Sorge.“ Silky Legs hat seine Unruhe registriert. „Sie werden die Blätter unbeschadet zurückbekommen.“ Erst jetzt sieht Jakob, dass sie ihren Schreibblock auf den Knien balanciert, versteckt unter seinen Erinnerungen.
    Als die Therapeutin alle Seiten gelesen hat, schürzt sie die Lippen und schweigt, und Jakob befürchtet, dass seine Aufzeichnungen nicht ihren Erwartungen entsprechen, dass er etwas an der Aufgabe falsch verstanden hat. Doch dann sagt sie: „Sie wissen, dass Sie hier einen Schatz haben, Herr Brenner?“
    Und er schüttelt den Kopf, noch während seine Unterlippe zu zittern beginnt und sich gleich darauf ein wahrer Sturzbach aus Tränen über sein Gesicht ergießt. Der Gefühlsausbruch kommt so plötzlich, dass er völlig unvorbereitet ist. Sein ganzer Körper bebt, er kann überhaupt nicht mehr aufhören zu heulen und verbirgt sein rotz- und tränenverschmiertes Gesicht in den Händen, holt zischend Luft und heult weiter. Währenddessen sitzt Silky Legs ihm gegenüber, ist die Ruhe selbst und reicht Jakob hin und wieder ein Papiertaschentuch.
    Als er sich endlich leergeweint hat, entfährt ihm ein tiefer Seufzer. „Das da“, sagt er und deutet auf die Papiere in der Hand der Therapeutin, „ist kein Schatz. Es ist meine Trauer. Es ist der Klotz an meinem Bein.“
    Silky Legs schüttelt den Kopf. „Es ist ein Schatz“, wiederholt sie bestimmt. „Sie müssen nur noch lernen, ihn als solchen anzusehen.“
    Später, als er wieder auf der Straße steht, klingelt sein Handy.
    „Und?“, fragt Katrin. „Ist er wieder da?“
    „Was?“, erwidert Jakob verwirrt. „Wer?“
    „Na, Arne!“
    „Nein … aber woher weißt du, dass er mich verlassen hat?“
    „Ach, herrje“, seufzt Katrin. „Dann hat er sich doch nicht bei dir gemeldet?“
    „Nein.“
    „Ich dachte eigentlich …“, murmelt Katrin, dann sagt sie etwas lauter: „Er war hier.“
    Jakob fällt aus allen Wolken. „Er war bei dir? Er hat dich besucht? Wann?“
    „Vor ein paar Tagen. Er wollte sich ein Bild von Marius machen. Er wollte reden.“
    „Und das hast du gemacht?“, fährt Jakob sie an. „Du hast mit ihm über Marius gesprochen?“
    „Er stand plötzlich vor der Haustür! Hätte ich ihn wegschicken sollen?“, verteidigt sich Katrin. „Aber hauptsächlich habe ich mit ihm über dich geredet. Arne ist unglücklich, mein Lieber.“
    „Er hat mich verlassen!“, gibt er empört zurück. „Hast du … hast du ihm etwas von Stefan erzählt?“
    „Nicht direkt.“
    „Was heißt das, nicht direkt?“
    Katrin seufzt erneut. „Rede mit ihm, Jakob. Sonst wird er nie verstehen, warum du so geworden bist.“
    Aber Jakob will nicht, dass Arne weiß, wie sehr er versagt hat, wie sehr er Marius verletzt hat. Er will nicht, dass Arne in die tiefsten Abgründe seiner Scham sieht. „Wie bin ich denn geworden?“, lenkt er ab.
    „Traurig“, antwortet Katrin.
    Mai 1988
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