Wie Jakob die Zeit verlor
waren anstrengend gewesen, nervenaufreibend. Die Arbeit an der Uni, bei der das Schreiben seiner Magisterarbeit mehr und mehr in den Vordergrund rückte: ein Thema zur „Reconstruction“, der Periode der Wiedereingliederung der Südstaaten in die amerikanische Union nach dem Bürgerkrieg. Niemand außerhalb des kleinen Kreises von Anglo-Amerikanisten hatte je davon gehört, niemand außer ihnen würde diese Arbeit je lesen. Jede Woche, jeden Tag saß er stundenlang vor einem Mikrofiche-Lesegerät und quälte sich durch die Akten des amerikanischen Kongresses, bis die winzige Schrift vor seinen Augen zu einem schwärzlichen Buchstabenbrei verklumpte.
Immer wieder schweiften seine Gedanken in dem verdunkelten Raum an der Uni ab; immer wieder blieben sie bei Sascha hängen, malten sich seinen auf dem Asphalt liegenden Körper aus. Ob er den Aufschlag gespürt hatte? Was war in ihm vorgegangen, als er gesprungen war? Hatte er seine Arme ausgebreitet? Waren ihm wenigstens für einen winzigen Moment Flügel gewachsen? Hatte er sich frei gefühlt? Denn das war es doch, weswegen er gesprungen war: um frei zu sein. Oder war alles, was er verspürt hatte, der unwiderstehliche Sog der Schwerkraft gewesen? Jakob grübelte darüber nach, warum ihn sein bester Freund nicht ins Vertrauen gezogen hatte, fühlte sich ausgelaugt durch das ständige Wechselbad von Wut und Traurigkeit. Warum? Warum war Sascha gesprungen? Jakob war nicht besonders religiös, dennoch fehlte ihm letztendlich das Verständnis für Saschas Entschluss. Niemals seit dem Wissen um seine Infektion hatte er daran gedacht … oder doch? Plötzlich erinnerte er sich an eine Nagelschere in seiner Hand, die in seine Leiste stach, aber der Schmerz hatte ihn wieder zu sich kommen lassen, und er hatte gewusst, dass er sich dem Virus nicht kampflos geschlagen geben würde. Wegen Marius. Weil er sich das selbst schuldete. Wenn Marius doch nur ebenso denken würde.
Jakob hatte dem Aachener Weiher seit dem Winter keinen Besuch mehr abgestattet. Das quadratische Stück künstlichen Sees, eingebettet im Grüngürtel der Stadt, besaß eine trübe, bräunliche Farbe, auf der Oberfläche schwammen Plastiktüten und leere Hamburger-Schachteln. Kein Wasser, in das man seine Hände tauchen wollte, geschweige denn den ganzen Körper. Jakob schreckte ein Entenpärchen aus dem Schlaf, das sich unter den Schutz eines Busches in Ufernähe begeben hatte. Am jenseitigen Ufer fuhr ein Radfahrer stadteinwärts; die Stille der Nacht trug das Rappeln des Schutzblechs zu Jakob herüber.
Oberhalb des Sees, auf dem bewaldeten Hügel, roch es nach frischem, jungem Gras; die eingetretenen Trampelpfade fühlten sich fremd an unter seinen Füßen. Zwischen den Bäumen raschelte das Herbstlaub des vergangenen Jahres, als wären Ratten oder Karnickel dabei, ihre Erdhöhlen zu vertiefen. Doch dann bogen sich die Blätter beiseite und Turnschuhe oder Stiefel bahnten sich ihren Weg durch das Unterholz, zerrissen die Dunkelheit mit dem Aufflackern eines Feuerzeugs, dem Glimmen einer Zigarette. Jakob schob die Hände in die Taschen und blieb auf der kleinen Anhöhe stehen, von der aus man einen guten Überblick über das Geschehen am Weiher besaß, bis sich seine Augen an die Schwärze der Nacht gewöhnt hatten.
Saschas Beerdigung zwei Wochen zuvor war ein einziges Fiasko gewesen. Marius und Jakob waren mit ein paar Freunden in den Westerwald gefahren, dort, wo Sascha aufgewachsen war und seine Eltern noch lebten. Natürlich wollten die Eltern Sascha in seiner Heimat bestatten, dem Dorf, dessen Namen er sieben Jahre nicht mehr in den Mund genommen hatte, aus Angst vor einem nicht enden wollenden Brechreiz. Vor dessen Spießigkeit und sozialer Kontrolle er nach Köln geflohen war, um so leben zu können, wie er es wollte. Aber im Tod hatte seine Heimat ihre Klauen wieder nach ihm ausgestreckt und ihn in ihrer von Unverständnis und Intoleranz vergifteten Erde vergraben. Was für ein schauderhaftes Panoptikum: ein Priester, der sie vor der kleinen Dorfkirche mit Leichenbittermiene empfing; die Eltern, die sich noch in einem Schockzustand befanden, aber wie selbstverständlich in der vordersten Reihe Platz nahmen, obwohl sie seit Jahren kein Wort mehr mit ihrem jüngsten Sohn gesprochen hatten; der ältere Bruder mit Frau und drei kleinen Kindern, der sich weigerte, Jakob, Marius und den anderen die Hand zu schütteln. Die Köpfe der Gemeinde, die sich während der Trauerfeier nach ihnen umdrehten; die
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