Wie Jakob die Zeit verlor
Aids-Bereich. Die DDR lehnt die namentliche Meldepflicht offiziell ab.
In Großbritannien wird die von der Thatcher-Regierung eingebrachte sogenannte Clause 28 im Parlament verabschiedet. Fortan ist es lokalen Behörden untersagt, Homosexualität zu fördern und Material zu veröffentlichen und zu verbreiten, das Homosexualität fördert. Schulen ist es verboten, homosexulle Partnerschaften als akzeptable, alternative Familienform darzustellen. Das Gesetz hat anfänglich eine freiwillige Auflösung vieler Schwulengruppen zur Folge, stärkt aber langfristig den Widerstand der Schwulenbewegung in England. 2003 wird das Gesetz aufgehoben.
In den USA wird endlich eine erste großangelegte und landesweite Aufklärungskampagne zum Thema Aids gestartet. 107 Millionen Exemplare der Broschüre „Understanding AIDS“ werden an Haushalte, Firmen, öffentliche Einrichtungen und Institutionen verteilt. Darin wird u.a. vor Sex ohne Kondom gewarnt. Außerdem wird darüber informiert, dass man sich durch normalen Körperkontakt, Küssen oder Mückenstiche nicht infizieren kann.
In Großbritannien hält sich ein Remake der Beatles mehrere Wochen an der Spitze der Charts. WetWetWet/Billy Bragg with Cara Tivey mit „With a Little Help from My Friends/She’s Leaving Home“. In Deutschland steht France Gall mit „Ella elle l’a“ auf der Nummer Eins.
Jakob hatte die Taschen mit den Lebensmitteleinkäufen noch nicht abgestellt, als Marius auf ihn zukam. „Jemand namens Stefan hat gerade angerufen.“ Da war ein merkwürdiger Unterton in seiner Stimme, und Jakob hatte sofort ein schlechtes Gewissen.
„Ich … oh, ja.“ Für einen Moment trafen sich ihre Augen, dann senkte Jakob den Blick. „Ich rufe gleich zurück“, murmelte er. „Tut mir leid.“
Aber Marius schien nicht wirklich verärgert zu sein, eher überrascht, und Jakob war versucht, diesen Umstand darauf zurückzuführen, dass die Bestrahlungen erste Erfolge zu zeigen schienen. Zwei Kaposis waren kaum noch zu sehen: das im Gesicht und eines auf dem Oberarm. Nur zwei rötliche Schatten wiesen darauf hin, dass sie einmal existiert hatten. Auch das Retrovir schien Marius entgegen seinen Befürchtungen zu vertragen. Zwei Wochen hatten sie kaum zu atmen gewagt und auf körperliche Begleiterscheinungen gewartet, hatten jedes Zucken im Bauch, jeden leichten Kopfschmerz, jedes Unwohlsein gefürchtet. Aber abgesehen von einigen Durchfällen verspürte er keine Nebenwirkungen. Ob es etwas nutzte, war noch nicht abzusehen. Vielleicht bedeutete Retrovir ja doch Rettung auch für Marius: Sie trauten sich kaum, daran zu denken. Zu groß wäre die Enttäuschung, wenn die Hoffnung trog, zu tief die Verzweiflung, wenn das Medikament nicht half. Und doch hofften sie, natürlich, heimlich, ohne es dem anderen zu zeigen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.
„Wann hast du ihn kennengelernt?“
„Vor zwei Wochen. Am Weiher.“
„Beschreib ihn mir.“
„Ein bulliger Typ, Schnäuzer, Dreitagebart, Lederjacke, ein paar Jahre älter als wir“, erwiderte Jakob zögernd. Warum wollte Marius das wissen? Sie erzählten sich sonst nie von ihren sexuellen Abenteuern.
„Eine Lücke zwischen den Schneidezähnen?“ Marius’ Stimme zitterte leicht bei der Frage.
Jakob sah überrascht auf. „Woher weißt du das?“
Marius ließ sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und kraulte gedankenverloren Trumi den Nacken. Der Kater hatte sich auf einem Kissen zusammengerollt und hielt ein Nickerchen. „Ich habe ihn an der Stimme wiedererkannt.“
„Du hast ihn … dann hast du auch schon mal mit ihm …“
Marius nickte. „Im letzten Herbst. An dem Wochenende hast du deine Eltern besucht. Ich bin samstagabends im ‚Teddy Treff‘ gewesen. Wir haben ein paar Bier zusammen getrunken und dann … Er ist Krankenpfleger und wohnt in Ehrenfeld.“
„Ja, ich … ich weiß“, murmelte Jakob. Stefan hatte am Tag, nachdem sie sich am Weiher getroffen hatten, angerufen, und Jakob hatte ihn schon zu Hause besucht. Viermal. Wie es ihm gelungen war, diese Treffen vor Marius geheimzuhalten, war ihm selbst ein Rätsel. Aber er hatte gewusst, dass es besser war, nichts zu sagen. Weil sich das mit Stefan von Anfang an anders anfühlte. „Es war …“ Erneut trafen sich ihre Blicke.
„Kerzen?“, fragte Marius. Seine Lippen schmunzelten, aber Jakob konnte auch Furcht in seinen Augen erkennen. „Brennende Kerzen im ganzen Zimmer verteilt? Die Matratze auf dem Boden? Im CD-Player
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