Wie Jakob die Zeit verlor
Jakob.“
„Hm.“
„Ach, komm schon, Mann! Soll ich hier auf Knien rumrutschen?“
Jakob seufzt, eigentlich kommt Philip ihm ungelegen. Er hat zu viel mit sich selbst zu tun; er kann niemanden gebrauchen, der ähnlich egoistisch handelt, der auftaucht und verschwindet, wann es ihm passt. Er geht an Philip vorbei und steigt die Treppen hinauf. Erst auf dem Treppenabsatz dreht er sich um und sieht auf den ihm hinterherstarrenden Jungen hinab. „Worauf wartest du?“, fragt er mürrisch. „Auf eine schriftliche Einladung? Oder hast du anderweitige Verpflichtungen?“
„Anderweitige …? Nein. Hab ich nicht. Sehr witzig. Haha!“, erwidert Philip. Dann schlurft er hinter Jakob nach oben.
Während Jakob in der Wohnung das Radio einschaltet, um die Stille in seinem Leben zu übertönen, bleibt Philip überrascht im Flur zurück. Mit hochgezogenen Augenbrauen registriert er das Chaos in der Wohnung. „Hattest du ’ne wilde Party gestern?“
Es sieht aus, als wäre eingebrochen worden: Jakobs Jacken liegen neben der Garderobe, Schuhe fliegen kreuz und quer auf dem Boden umher. Als Philip sich in die Küche vorwagt, bleibt er mit seinen Turnschuhen an etwas Klebrigem hängen. Das schmutzige Geschirr in der Spüle ist zu einem formidablen, sehr prekären Turm angewachsen; Pilzsporen haben begonnen, die Oberflächen mit einem weichen, schmutzigen Flaum zu überziehen. Die Reste halb gegessener Mikrowellenmenüs stehen wahllos verteilt auf dem Tisch und den Regalen, der Abfalleimer quillt über, es riecht nach Müll. Leise pfeift er durch die Zähne.
Jakob bemerkt die Unordnung und den Dreck gar nicht. Vielleicht hat er sich auch so sehr daran gewöhnt, dass es ihm nicht mehr auffällt. Er sinkt müde auf einen Küchenstuhl, greift nach einem Glas, dessen angetrockneter Bodensatz aus etwas undefinierbar Braunem besteht, und gießt sich Milch aus der Tüte auf dem Tisch ein. Erst als er das Glas an die Nase hält, verzieht er das Gesicht. „Sauer.“ Hilflos irrt sein Blick durch die Küche, dann sieht er Philip an. „O Mann. Was soll ich bloß machen?“
„Ich kapier gar nicht, was hier abgeht“, erwidert Philip. „Hast du irgendwie ’ne Krise oder was?“
Jakob zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen. Ein Wunder, dass ich es morgens aus dem Bett schaffe und zur Arbeit gehe.“ Es stimmt. Die Erinnerungen an Marius aufzuschreiben, war ein letzter großer Kraftakt, seitdem ist er völlig apathisch. Morgens begrüßt er den Tag mit einem unwirschen Stöhnen, und abends heißt er den Schlaf mit einem erschöpften Seufzen willkommen. Was dazwischen ist, weiß er nicht; es kann nur unwichtig sein, sinnlos, unbedeutend.
Clinton kommt in die Küche spaziert, reibt sich an Jakobs Bein und fordert Fressen. Ächzend erhebt sich Jakob, reißt eine Dose Katzenfutter auf und stellt sie Clinton vor die Pfoten. Danach fällt er wieder auf seinen Stuhl zurück, mit gebeugten Schultern und hohlen Augen.
„So hab ich dich noch nie gesehen“, sagt Philip und kratzt sich ratlos am Kopf. „Du hast echt voll den Durchhänger, oder?“
„Ich weiß nicht mehr, wofür“, murmelt Jakob verwaschen.
„Was?“
„Na, das hier. Alles.“ Jakob deutet auf die Küche, die Wohnung, sich. „Es macht alles keinen Sinn mehr.“ Er verbirgt das Gesicht in seinen Händen, aber es kommen keine Tränen. Selbst die simpelste Gefühlsäußerung überfordert ihn.
Philip atmet tief durch. Soll er wirklich? Eigentlich geht ihn das hier doch gar nichts an. Außerdem hat er so etwas noch nie gemacht, und er ist keineswegs sicher, dass er jetzt das Richtige tut. Ob er das überhaupt kann. Doch dann sagt er: „Geh ins Bett. Geh schlafen, Jakob. Ich kümmere mich.“
„Du?“ Aber Jakob ist zu erschöpft, um ernsthaft zu protestieren. Mühsam steht er auf und wankt ins Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett fallen lässt und sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf stürzt.
Er bemerkt nicht, wie Philip als Erstes die Fenster aufreißt, um frische Luft hereinzulassen, und dann den Müll entsorgt, halbleere Gläser in der ganzen Wohnung zusammensucht, die Spülmaschine anstellt und das überzählige schmutzige Geschirr abwäscht. Er hört nicht, wie Philip Wasser in einen Eimer laufen lässt und dann mit einem Schrubber die Küche putzt, mit einem Lappen den Tisch und die Regale säubert. Als der Staubsauger aufheult, flackern Jakobs Augen kurz auf, aber dann schläft er weiter, während Philip im
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