Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
findet er einen Zeitungsartikel. Er breitet ihn auf dem Bett aus, damit ich ihn sehen kann. »Sommermädchen« steht unter dem Bild einer nackten Frau, die in die Kamera lächelt. Sie hält einen Wasserball und streckt die Arme in die Luft, als wolle sie ihn gerade werfen.
»Meine Schwester«, sagt der Junge. »Sie hat viele Haare auf der Möse, damit man die Ritze nicht sieht.«
Er nimmt wieder meine Hand und zerrt mich ins Wohnzimmer.
Der Teppich ist dunkelrot und so dick, dass die Füße darin einsinken. An der Wand steht ein großes Ledersofa zwischen zwei Porzellanvasen mit chinesischen Schriftzeichen und goldenen Drachen. Der Fernseher ist riesengroß, schwarz und glänzend.
Er tritt gegen den Fernsehwagen, dass das Gestell wackelt.
»Sollen wir ihn zertrümmern? Du bestimmst. Sollen wir ihn zertrümmern?«
Ich antworte nicht, er packt mich am Arm und zieht mich zurück in die Küche.
Dort klettert er auf den Esstisch. Eine Schranktür ist mit einem kleinen Vorhängeschloss verriegelt.
Er bittet mich, ein Messer aus der Schublade zu holen, ich reiche ihm ein Buttermesser. Er steckt es zwischen Tür und Schrank und bewegt es hin und her. Zuerst gibt die Tür nur ein kleines Stück nach, sie knirscht, ein Holzsplitter bricht ab und landet auf dem Küchentisch.
Der Junge schiebt die Haare hinter die Ohren und hebelt kräftiger. Mit einem lauten Knall springt die Tür auf, ein Stück Holz bleibt hinter dem Vorhängeschloss stecken.
Ich muss ausweichen, um nicht von Weingummi- und Lakritztüten getroffen zu werden. Der Junge stellt sich auf die Zehenspitzen und fegt den Schrank mit dem Messer leer. Es regnet Schokolade, Gummibärchen, Bonbons und Karamell.
Wir sitzen auf dem Boden, umgeben von Süßigkeiten. Der Junge reißt Packungen auf, Lakritzkugeln rollen durch die Küche.
»Iss!«, sagt er.
Ich tue, was er sagt, esse, bis mir die Zunge schwillt und wehtut – sauer, salzig, süß, meine Zähne sind wie aus Holz.
»Neger«, ruft der Junge und zeigt auf meine Finger, die braun vor Schokolade sind.
»Werden deine Eltern nicht sauer sein?«, frage ich, den Mund voller Gummibärchen.
»Natürlich werden sie sauer sein. Iss weiter!« Er wirft ein Lakritz in die Luft und fängt es mit dem Mund.
Auf der Treppe muss ich mich an die Wand stützen, auf dem Hof kotze ich in bunten Farben. Als mein Vater heimkommt, liege ich im Bett und halte mir den Bauch. Ich drehe den Rücken zur Tür und stelle mich schlafend.
A n der Wand hängt ein Plakat mit einem Teddy, der eine große Zahnbürste in den Pfoten hält, ein anderes zeigt von Cola zerfressene Zähne. Wir sitzen im Wartezimmer des Zahnarztes. Auf einem kleinen Tisch liegen Bauklötze und ein Stapel Comichefte. In einem Aquarium kreisen Goldfische und knabbern am Futter, das auf der Oberfläche schwimmt.
Mein Vater hält meine Hand, ich versuche, nicht zu weinen. Die Zahnschmerzen haben mich die ganze Nacht wach gehalten, und ich habe meinem Vater von dem Jungen und seinen Spielen erzählt, von Kaninchenquetschen und Blinder Bär. Auch von den Süßigkeiten habe ich ihm erzählt. Er lächelte und sagte, so schnell bekomme man keine Löcher in den Zähnen. Außerdem sei es gut, dass ich einen Freund habe, wenn auch einen schlechten. Von schlechten Freunden lerne man oft am meisten. Trotzdem kommt es mir wie eine Strafe vor. Ich schwöre mir selbst, nie wieder mit dem Jungen zu spielen. Er kann warten, bis er schwarz wird, ich gehe nicht mehr in den Hof.
Ich blättere in einem Donald-Heft, kann die Worte aber nicht lesen, weil ich Tränen in den Augen habe. Mir ist völlig egal, ob Onkel Dagobert sein ganzes Geld verliert.
»Der Zahnarzt wird nachschauen«, sagt mein Vater. »Es wird schon wieder.«
Ich würde ihm gern glauben, aber wir haben mit niemandem geredet, seit wir hereingekommen sind, sondern uns einfach auf die letzten freien Stühle in der Ecke gesetzt. Wie soll der Zahnarzt wissen, wann wir an der Reihe sind?
Mein Vater nimmt meine Hand und sagt: »Virtute et armis.«
Ich antworte: »Mit Mut und Waffen.«
Er sagt: »Iacta alea est.«
»Der Würfel ist gefallen.«
»Und das war … ?«
»Caesar.«
»Und der war … ?«
Langsam leert sich das Wartezimmer, während wir die »ads« durchgehen: ad infinitum , ad libitum , ad notam .
Wir kommen bis zu ad vitam aeternam . Ich antworte »Bis in alle Ewigkeit«. Inzwischen sind wir die Letzten. Mein Vater steht auf und nimmt meine Hand. Ich folge ihm am Empfang vorbei ins
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