Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
stehen«, sagt er. »Wie als wir Scheiße auf die Klingeln geklebt haben.«
Er geht los und weiß, dass ich ihm folgen werde.
»Was hast du vor?«, sage ich zu seinem Rücken.
»Du wirst schon sehen«, sagt er, ohne sich umzudrehen. Ich bin sicher, dass er grinst. »Wenn ich es dir verrate, ist es ja keine Überraschung mehr.«
Wir gehen an den Verschlägen und den rostigen Fahrrädern vorbei.
»Überraschungen sind immer gut«, sagt er.
Ich nicke, er hat wohl recht. Wenn ich mit ihm zusammen bin, denke ich langsamer.
»Du bist mein Freund«, sagt er. Wir stehen vor der Kellertür zur Werkstatt des Hausmeisters. Der Junge zeigt auf eine Platte vor mir.
»Bleib hier und pass auf. Wenn du die Schlüssel des Hausmeisters hörst, komm runter und klopf drei Mal an.« Der Junge schlüpft durch die Tür. Ich bleibe auf der Platte stehen, auf die er gezeigt hat. Eigentlich will ich wegrennen, aber ich tue es nicht. Ich höre die Blätter im Wind rascheln, höre meinen eigenen Atem, der immer rascher wird, aber keine Schlüssel.
Dann geht die Tür auf, der Junge hält einen Schlüssel in die Luft, wie einen Pokal. Er greift meinen Arm und zieht mich davon.
»Jetzt wirst du staunen«, sagt er.
Wir gehen über den Hof an einer Vogeltränke vorbei, bis wir vor einer anderen Kellertür stehen. Der Junge zieht mich die Treppe hinunter. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und schließt auf. Drinnen ist es total dunkel. »Beeil dich«, sagt er. »Steh nicht rum und glotze.« Die Tür fällt hinter uns zu.
Wir gehen durch einen kurzen Gang. Ich rieche etwas Scharfes, vielleicht Leim. Ich höre den Jungen tasten. Das Licht an der Decke blinkt ein paar Mal, bevor es angeht. Wir sind umgeben von Katzen, die Pfeifen rauchen, und rothaarigen Mädchen mit buschigen Schwänzen, die unter den Kleidern hervorragen.
An den Wänden stehen Arbeitstische und stapelweise Stoffe in verschiedenen Farben und Mustern. »Überraschungen sind immer gut«, sagt der Junge. Wir stehen in einer Puppenwerkstatt.
Ich weiß, dass ich gehen sollte, aber ich kann den Blick nicht von dem Ameisenbären mit Hut oder dem Affen mit Spazierstock und roten Schuhen abwenden. Ich gehe von Tisch zu Tisch und sehe mir alle Puppen an. Giraffen mit langem Schlips, so lang wie ihre Hälse. An einer Pinnwand hängen Fotos einer alten Dame, die sich über eine Nähmaschine beugt, sie gibt einem Kaninchen Ohren und näht einem Hund Pfoten an. Auf anderen Bildern sitzt sie zwischen Kindern, die Puppen im Schoß halten. Die Kinder lachen, und sie lächelt stolz in die Kamera. Auf dem letzten Bild sitzt ein kleines Mädchen ohne Haare in einem Krankenhausbett. Es umklammert ein Krokodil mit Brille.
Plötzlich höre ich ein Knurren hinter mir, wie von einem Hund, der einen Knochen im Maul hält. Der Junge steht neben einer mannshohen Puppe. Zuerst denke ich, er würde sie umarmen, aber dann sehe ich, dass er der Puppe in den Hals gebissen hat. Er reißt ihr den Kopf halb ab, gelbliche Füllung quillt hervor. Wir sehen einander an, und er wirft die Puppe von sich. Dann nimmt er eine Schere und vergisst mich wieder, schneidet Puppenarme und Puppenbeine ab. Ich gehe rückwärts aus der Werkstatt. Der Junge schneidet einem Zebra die Ohren und einem Elefanten den Rüssel ab. Ich gehe durch den Gang hinaus.
Auf der Kellertreppe bleibe ich stehen, um meine Augen wieder ans Licht zu gewöhnen, als ich Schlüsselrasseln höre. Ein großer Schlüsselbund, der immer näher kommt.
Ich springe hinter die Büsche an der Hausmauer und lege mich flach auf den Boden. Durch die Blätter sehe ich die Hosenbeine des Hausmeisters. Er bleibt direkt vor meinem Busch stehen. Ich schließe die Augen und hoffe, dass er mich nicht entdeckt.
Er hält kurz inne, dann geht er die Kellertreppe hinunter und öffnet die Tür zur Puppenwerkstatt.
Ich liege im Bett, kann nicht schlafen. Mein Vater ist spät von der Arbeit gekommen, er sitzt in der Küche und isst belegte Brote.
Ich höre ein Zischen, er öffnet eine Flasche Bier.
Ich höre, wie mein Vater den Teller spült. Dann steht er in der Tür und fragt, ob er unser Märchen weitererzählen solle. Seit ein paar Tagen wandern der König und der Prinz durch einen verzauberten Wald. Sie gehen auf einem schmalen Pfad, der von fleischfressenden Pflanzen gesäumt ist. Ich frage meinen Vater, ob wir bis morgen warten könnten mit dem Märchen. Ob die Pflanzen sie dann fressen würden? Natürlich könnten wir warten, sagt er. Der König und der
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