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Wie Kinder heute lernen

Titel: Wie Kinder heute lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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Aufmerksamkeit, die Leistungsfähigkeit nimmt dann ab. Verantwortlich für diese »Hallo-wach-Reaktion« im Gehirn sind kleine Areale im Hirnstamm. Sie bilden das Retikuläre Aufmerksamkeitssystem (RAS), einen Komplex aus mehreren Hirnkernen, die quasi in das gesamte Großhirn projizieren. Das Retikuläre Aufmerksamkeitssystem funktioniert so ähnlich wie eine Türglocke - es macht das Großhirn auf ankommende Signale aufmerksam. Besonders wichtig in diesem Verbund von Hirnkernen ist der blaue Kern. Dieser Kern hat nur einige Tausend Nervenzellen, die als Neurotransmitter, also als Botenstoff, Noradrenalin benutzen. Mit ihrer Hilfe kommen die wenigen Zellen mit vielen Millionen Zellen in der Großhirnrinde in Kontakt. Wird Noradrenalin ausgeschüttet, hat dies eine ungeheuer belebende Wirkung auf die Großhirnrinde: Es schärft vor allem die Wahrnehmung und macht wach. Je größer die allgemeine Aufmerksamkeit, desto höher die Chance, dass ein bestimmtes Erlebnis oder auch ein Detail aus dem Unterricht gespeichert wird. Je wacher Kinder sind, umso besser funktioniert ihre Wahrnehmung und umso detailgetreuer können sie sich erinnern.
    Die selektive Aufmerksamkeit dagegen spielt vor allem deshalb eine wichtige Rolle, weil unsere Wahrnehmung der Welt nicht passiv erfolgt, sondern ein aktiver Prozess ist. Aus einer Unmenge an Reizen, die auf uns einprasseln, filtern wir die heraus, die uns in der spezifischen Situation relevant erscheinen. Wenn wir Auto fahren, nehmen wir viele Dinge in der Umwelt nur schemenhaft zur Kenntnis und, je geübter wir sind, das Schalten und Bremsen gar nicht mehr wahr. Nur plötzliche Bewegungen, rote Ampeln und Verkehrsregeln missachtende Radfahrer erregen unsere Aufmerksamkeit. An die Strecke, die man entlanggefahren ist, erinnert man sich oft schon am Ende der Fahrt nicht mehr. Dieses Beispiel macht deutlich, wie die selektive Aufmerksamkeit wirkt, also die Fähigkeit, eine
bestimmte Wahrnehmung, einen bestimmten Reiz bevorzugt zu behandeln. Durch unsere begrenzte Kapazität der Informationsverarbeitung ist das Gehirn gezwungen, die anfallenden Aufgaben mit hoher Priorität zu bearbeiten. Die selektive Aufmerksamkeit ist zu einem bestimmten Zeitpunkt nur auf einen Gegenstand gerichtet. Sich gleichzeitig auf eine Stelle im Bild links oben und rechts unten zu konzentrieren ist unmöglich. Man kann allenfalls rasch zwischen diesen Raumpunkten wechseln. Wenn Kinder also bei den Hausaufgaben mit Sprache beschäftigt sind, mindert es ihre Konzentration, wenn sie gleichzeitig eine Fernsehsendung verfolgen oder sich mit ihren Geschwistern unterhalten. Gegen Musikhören dagegen spricht nicht unbedingt etwas. Es kommt immer darauf an, wie stark die kognitive Belastung durch Sinnesinformationen ist, die nichts mit den Hausaufgaben zu tun haben. An dieser Stelle gibt es große individuelle Unterschiede, insofern sollten Eltern ganz genau beobachten, was die Kinder ablenkt und was sie stimuliert (siehe auch Kapitel 3.3, »Lernen braucht Organisation«).
    Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Konzentrationsfähigkeit im Laufe eines Lebens nicht immer gleich entwickelt ist. Sie spiegelt vor allem die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses wider, und das erreicht erst im Alter von 25 Jahren seine größte Leistungsfähigkeit ( Abb. 3 ). Bei einem fünfjährigen Kind ist diese Fähigkeit des Zwischenspeicherns (vom Kopfrechnen über lange Sätze bis hin zu komplexen Handlungsketten) noch sehr schwach ausgebildet. Aber selbst ein 12- oder 14-jähriger Schüler ist noch nicht imstande, sich so lange und so intensiv zu konzentrieren wie ein 18- oder 20-Jähriger.
    Unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit unseres Arbeitsgedächtnisses gilt: Je mehr Aufmerksamkeit einer Aufgabe zuteil wird, umso mehr Ressourcen werden woanders abgezogen. Wenn Kinder an einer schwierigen Hausaufgabe sitzen, sollte die Ablenkung so gering wie möglich sein. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn Kinder sich schlecht konzentrieren, werden irrele-vante
Stimuli aus der Umgebung viel besser verarbeitet als der Lernstoff. In dieser Situation ist Ablenkung vorprogrammiert: Zwar nehmen wir nie alles wahr, aber es ist schwer, das Wahrnehmungssystem daran zu hindern, so viel wie nur irgend möglich wahrzunehmen. Dementsprechend wollen und müssen Kinder beim Lernen gefordert sein. Dies ist dann der Fall, wenn es Eltern gelingt, bei ihren Kindern eine gewisse Faszination für ein Thema zu entfachen und die Aufgaben so zu stellen,

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