Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wie Kinder heute lernen

Titel: Wie Kinder heute lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
Vom Netzwerk:
einen bürokratischen Zufall kam es zu einem Tausch zwischen den beiden Heimleiterinnen - ein Kontrollexperiment, wie man es besser nicht hätte planen können. Nun verhielten sich die Wachstumsraten prompt genau umgekehrt: Die Kinder, die vorher von Frau Schwarz betreut worden waren, wuchsen in der Obhut von Frau Grün auf einmal wesentlich schneller und erreichten fast Normalwerte, während die Kinder, die bislang unter der Obhut von Frau Grün gewesen waren, vom Tag des Wechsels ein gegenteiliges Verhalten zeigten und langsamer wuchsen.
    Neben einer großen Zahl anderer Befunde zeigt diese Studie auch, dass es nicht reicht, Liebe verbal auszudrücken, um Stress zu mindern, sondern dass vor allem direkter Körperkontakt, z. B. in Form von Umarmungen, die Bindung steigert und sich positiv auf die Gehirnreifung und das Körperwachstum insgesamt auswirkt. Untersuchungen am Karolinska-Institut in Stockholm konnten belegen, dass Massagen und herzlicher Körperkontakt die Ausschüttung eines ganz bestimmten Hormons aus der Hirnanhangsdrüse fördert. Das auch als Liebeshormon bezeichnete Oxytocin ist ein äußerst vielfältiger und für unser Gefühlsleben
entscheidender Wirkstoff. Dieses kleine Hormon, das sich nur für kurze Zeit im Blut nachweisen lässt, reguliert nicht nur die Wehen bei der Geburt und die kleinen Muskelkontraktionen beim Orgasmus, sondern es wirkt auch im Gehirn Angst reduzierend, Stress abbauend und ermöglicht generell tiefe emotionale Bindungen zwischen Menschen.
Kinder im Stress
    Stress, egal ob durch fehlende Zuneigung, Überforderung oder terminliche Überlastung erzeugt, kann für Kinder zu einer Dauerbelastung werden. Umso bedenklicher ist der Befund, dass heute bereits jedes vierte Grundschulkind über Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit klagt. Als häufigste Ursache wird Stress angegeben.
    Im Lichte der Evolution stellt Stress in einer konkreten Konfrontation, in der über Flucht oder Kampf entschieden werden muss, eine Anpassungsleistung dar, die den Organismus aktiviert. Auf eine bedrohliche, feindliche Situation eine Stressreaktion zu zeigen ist also erst einmal ein natürliches Verhalten. Kritisch wird es, wenn etwas als beständige Bedrohung wahrgenommen wird (z. B. Klausuren, bestimmte Fächer, die Schule generell, Hausaufgaben). Dauerstress erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten und schädigt die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Entscheidend ist hier, welche Erfahrung Kinder in der Bewältigung oder eben in der Nichtbewältigung von Stress gemacht haben. Dabei gilt es zwei Ebenen der Bewertung einer Situation zu unterscheiden: Beim Erleben eines Ereignisses, z. B. wenn das Kind vom Lehrer überraschend eine Frage gestellt bekommt, ist zunächst die primäre Bewertung wichtig: Wird die Situation sofort als unangenehm empfunden? Beginnen seine Hände zu schwitzen? Spürt es Angst? Neben dieser ersten Einstufung erfolgt in einem nächsten Schritt die sekundäre Bewertung, d. h. die Einschätzung, ob man glaubt mit einer Situation fertig zu werden oder nicht. Diese
Bewertung wird auch genannt. Traut sich das Kind eine Kontrolle der stressigen Situation zu, weil es z. B. denkt: »Gestern ist auch nichts Schlimmes bei der Klausur passiert« oder »Ich habe eigentlich alles gelernt«, so dämpft dies die erste heftige Reaktion. Die Belastungssituation wird zu einer Herausforderung, die sogar Freude machen kann. Eben diese sekundäre Bewertung verlief in dem eingangs geschilderten Beispiel bei Maria positiver als bei Guido. Und genau diesen Anteil einer Stressreaktion kann jedes Kind - zusammen mit den Eltern - trainieren. Das ist die positive Nachricht. Trainieren Schüler diese zweite Bewertung einer Stresssituation, erleichtert ihnen das im späteren Leben den Umgang mit Stress, dem sie immer wieder ausgesetzt sein werden, ob im Beruf oder im Privatleben. Dagegen hilft es nicht, generell Stresssituationen zu meiden - der Lerneffekt tritt dann nicht ein. In vielen Fällen, z. B. wenn eine Klausur ansteht oder das Kind mit einem Lehrer nicht so gut auskommt, kann man belastenden Situationen ohnehin nicht aus dem Weg gehen. Das Vermeiden von Stresssituationen ist auch deshalb nicht empfehlenswert, da es das Kind daran hindert, seine eigenen Leistungsgrenzen kennenzulernen und sein Potenzial auszuschöpfen. Vielmehr gilt: Wer Herausforderungen nicht annimmt, weil er Angst hat zu versagen, verbaut sich das Erlebnis, neue Erfahrungen zu machen und damit das

Weitere Kostenlose Bücher