Wie Kinder heute lernen
breiteres Spektrum, als dies bei Mädchen der Fall ist. Das gilt sowohl für das obere wie das untere Ende der Verteilungskurve. Die Breite einer Verteilung nennt man in der Wissenschaft Varianz, und diese ist bei Jungen größer als bei Mädchen. Am Beispiel der Körpergröße erläutert heißt das: Wenn in einer Gruppe von Schülern die Körpergröße in einer Klasse zwischen 1,70 m und 1,80 m schwankt, in einer zweiten Gruppe aber zwischen 1,60 m und 1,90 m, so ist die Varianz in der zweiten Gruppe größer. Wenn diese Streuung dadurch zustande kommt, dass es von 30 Schülern zwei gibt, die 1,60 m groß sind, und fünf, die 1,90 m groß sind, so sind in beiden Klassen die meisten Schüler ähnlich groß; sie unterscheiden sich nur in den Randbereichen der Körpergrößenverteilung.
Mathematische Begabung und Selbstbewusstsein
In den USA wird alljährlich eine Art bundeseinheitlicher Eignungstest durchgeführt, um Studenten auf ihre sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten zu testen. Dieser Test wird seit 1970 auch bei 12- bis 13-Jährigen durchgeführt, um frühzeitig auf mathematisch hochtalentierte Schüler und Schülerinnen aufmerksam zu werden. Auffällig an dem Ergebnis dieses Tests ist, dass die Jungen im mathematischen Teil besser abschneiden als die Mädchen. Je schwieriger die Aufgaben werden, umso größer wird der Abstand zwischen den Geschlechtern, bis am oberen Ende der Skala 13 Mal mehr Jungen als Mädchen vertreten sind. Aber nicht nur in der Spitzengruppe finden sich mehr Jungen als Mädchen. Zu den schlechtesten Teilnehmern, also den Kindern, die beim Rechnen große Schwierigkeiten haben, gehörten wesentlich mehr Jungen als Mädchen. Der Großteil der Teilnehmer erreichte übrigens unabhängig vom Geschlecht einen mittleren Leistungswert.
Spannend war die Studie auch deshalb, weil die Eltern und Lehrer der teilnehmenden Kinder nach ihrem Umgang mit deren mathematischer Begabung befragt wurden. Interessanterweise wurden keine Einflüsse festgestellt, die darauf schließen ließen, dass die Jungen in der Spitzengruppe durch ihre Umwelt bevorzugt und die Mädchen weniger gefördert wurden. Insofern scheint mathematische Begabung in der Tat in hohem Maße genetisch veranlagt zu sein. Der einzige soziale Faktor, der sich mit auf das Resultat auswirkte, war das Selbstbewusstsein: Der Test förderte zutage, dass selbst mathematisch hochbegabte Mädchen sich in ihren mathematischen Fähigkeiten weniger zutrauten als ihre männlichen Klassenkameraden. Und sie ergriffen später auch weniger häufig mathematische Berufe, als dies bei Jungen der Fall ist. Diese Ergebnisse wurden durch andere Studien bestätigt, in denen man Studierende über mehrere Jahre hinweg bat, ihre Noten bei diversen Abschlussarbeiten vorherzusagen. Während sich die weiblichen Studenten regelmäßig etwas unterschätzt hatten, lagen die männlichen Studenten im Durchschnitt etwas
unter ihrer Einschätzung. Andere Befragungen ergeben, dass Selbstvertrauen durchaus einen positiven Einfluss auf die Leistungsfähigkeit hat: Die Testpersonen erreichten dann häufiger Höchstleistungen, wenn sie sich leicht überschätzten, und zwar unabhängig vom Geschlecht! Ein Umstand, den Eltern immer im Blick haben sollten. Ein wenig mehr Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten - selbst wenn es objektiv nur zum Teil gerechtfertigt ist - kann durchaus leistungssteigernd sein.
Auffällig ist, dass Jungen öfter Linkshänder und Allergiker sind, statistisch gesehen häufiger an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden oder Konzentrationsschwierigkeiten (wie beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADS) haben. Auch Autismus, eine Störung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit, tritt öfter bei Jungen auf, ebenso wie die abgeschwächte Form des Autismus, das Asperger Syndrom. Diese Fakten veranlassten Wissenschaftler, nach einer gemeinsamen Ursache für diese Auffälligkeiten zu suchen. Schnell kam die Vermutung auf, dass ein spezifisches Hormon dafür verantwortlich sein könnte: das männliche Geschlechtshormon Testosteron. Bereits in der sechsten Entwicklungswoche produziert ein männlicher Fötus dieses männliche Geschlechtshormon in weitaus höherer Menge als ein weiblicher Fötus, der in der Tat ebenfalls Testosteron produziert, wenn auch in sehr geringen Mengen. Offenbar beeinflusst das Hormon die Entwicklung des Gehirns also schon während der Schwangerschaft. Dies weiß man über genetische Veränderungen in der
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