Wie Kinder heute lernen
räumliche Orientierung und Vorstellungsvermögen gebraucht, sondern auch manuelles Geschick (Feinmotorik) und Wahrnehmungsleistungen. Darüber hinaus sind die Differenzen innerhalb einer Geschlechtsgruppe wesentlich größer als zwischen den Geschlechtern. Entsprechend kann die Beurteilung einer Fähigkeit immer nur individuell erfolgen. Die Geschlechtszugehörigkeit allein ist also kein guter Indikator
für die zukünftigen Interessen, Neigungen und Leistungen eines Kindes - anders als die vorurteilslose Beobachtung. Und dabei haben Eltern oft falsche Vorstellungen von der eigenen Objektivität. Zwar konnte gezeigt werden, dass Töchter und Söhne im Deutschland des 21. Jahrhunderts in vielen Aspekten erfreulich gleich behandelt werden, etwa wenn es um die Intensität der Interaktion, Kommunikation, Lob und Zuwendung geht. Aber viele psychologische Studien haben auch belegt, dass Eltern bestimmte geschlechtsspezifische Spiele und Verhaltensweisen fördern. Unbemerkt bekommen Mädchen etwa weniger Zuspruch, wenn sie mit Autos spielen. Selbiges gilt für Jungen, die mit Puppen spielen. Auf der anderen Seite wird ein gelungener Schuss oder Wurf eines Jungen mehr gewürdigt, als dies bei einem Mädchen der Fall ist. Entsprechendes ist mit umgekehrten Vorzeichen bei einer schönen Zeichnung zu konstatieren: Ein Mädchen wird dafür gemeinhin mehr gelobt als ein Junge.
Solche subtilen Verstärkungsmuster fördern die angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der außerfamiliäre Einfluss durch Spielkameraden, Kindergarten, Schule und Fernsehen spielt dabei eine immens große Rolle. Kinder haben ein großes Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung, vor allem dann, wenn es um die Akzeptanz durch ihre Spielkameraden geht.
Welche Bedeutung die Sozialisation haben kann, zeigt sich insbesondere während der Pubertät: Jungen zeigen hier im IQ eine Steigerung um zwei Punkte, während er bei Mädchen sogar um einen Punkt sinkt. Beides ist eigentlich nicht zu erwarten, da der IQ über die Lebensspanne hinweg eher konstant bleibt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass in der Pubertät Faktoren, wie z. B. das Selbstbewusstsein, eine Rolle spielen und die intellektuelle Leistung beeinflussen können. Generell ist der Druck auf pubertierende Jugendliche, die versuchen, sich an die Geschlechterrollen der Erwachsenen anzupassen, sehr groß. Wie aber gleich mehrere psychologische Studien gezeigt haben, wird dieser Druck vor allem von Mädchen als besonders stark empfunden.
Jungen als die zukünftigen Verlierer im Geschlechterkampf?
Aus all dem bisher Beschriebenen würde man eines nicht erwarten: dass sich insgesamt die Schulleistung zwischen den Geschlechtern unterscheidet, schon gar nicht, dass Jungen häufiger die Schule abbrechen und im Durchschnitt schlechtere Noten haben. Aber genau das ist in den letzten Jahren eingetreten. Während bis Mitte der 90er Jahre Jungen häufiger Abitur gemacht, weniger häufig die Schule abgebrochen haben und im Durchschnitt die besseren Noten als Mädchen hatten, hat sich dieser Trend mit Beginn des neuen Jahrtausends umgekehrt. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob diese Entwicklung biologische Ursachen hat oder kulturelle. Es könnte sein, dass Frauen bei schulischen Leistungen die kognitiv Überlegenen sind, da sie im Mittel auf der einen Seite sprachbegabter und disziplinierter sind und auf der anderen Seite sozial kompetenter und in ihren Wahrnehmungsleistungen präziser. Ebenso wäre es aber möglich, dass im Zuge der Gleichberechtigung Mitte der 90er Jahre Lehrer und Lehrerinnen in der Schule zu unterrichten begannen, die mit wesentlich weniger Vorurteilen den Geschlechtern gegenüber lehren und benoten. Entsprechend wäre der bessere Notendurchschnitt der Mädchen schlichtweg eine Folge der Gleichberechtigung. Diese Argumentation sollte man ernst nehmen. Schon der französische Psychologe Alfred Binet, der an der Entwicklung der ersten Intelligenztests mitgewirkt hat (siehe auch Kapitel 2.3, »Intelligenz und Wissen«), hatte anfänglich höhere IQ-Werte für Frauen gemessen und seinen Test dann so abgewandelt, dass Männer und Frauen gleich gut abschnitten (zu Recht übrigens, denn der IQ-Wert soll vom Mittelwert der gesamten Bevölkerung ausgehen).
Christian Pfeifer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen, vermutet dagegen, dass Computerspiele und vor allem die insgesamt geschlechtsspezifische Mediennutzung den dramatischen Notenabfall der
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