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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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die Angst. Er durfte nicht weiter darüber nachdenken, weil er diese Panikattacken hasste, die ihn regelmäßig heimsuchten, las weiter:
    Nun stehst du bleich,
    Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    Dem Rauche gleich,
    Der stets nach kältern Himmeln sucht.
    Plötzlich zerknüllte er das Blatt, drückte es dem alten Mann wieder in die Hand.
    «Es ist nicht gut. Er hätte so etwas nicht schreiben dürfen.»
    «Wer? Nietzsche? Weshalb hätte er es nicht schreiben sollen?»
    «Weil es Angst macht.»
    Der alte Gottberg nickte vor sich hin. «Erinnert es dich an etwas, das du lieber vergessen würdest?»
    Er lachte auf. «Mein Gott, immer diese Fallen überall. Warum sind eigentlich alle so daran interessiert, dass ich mich erinnere?»
    «Weil es ein Teil deines Lebens ist, den du verloren hast. Weil du ohne Identität bist, ohne Ausweis, ohne Staatsangehörigkeit, ohne Familie, ohne Geld, Wohnort, Versicherungen, Beruf. Du stehst schlechter da als ein Landstreicher, wenn man es genau betrachtet.»
    Er legte eine Hand über seine Augen, folgte dann mit einem Finger den Brauen – mit dem Strich, gegen den Strich.
    «Da ist noch etwas!», flüsterte er. «Es gibt noch einen anderen Grund. Ich weiß nicht welchen, aber es gibt einen. Deshalb seid ihr hinter mir her.»
    «Nein», murmelte der alte Gottberg. «Niemand ist hinter dir her. Das bildest du dir ein. Wahrscheinlich ist das beinahe normal, wenn man sich an nichts erinnern kann. Du musst nur aufpassen, dass du keinen Verfolgungswahn entwickelst. Das wäre nicht gut für dich und auch für niemanden sonst!»
    Es klopfte an der Tür und der Wärter erschien, kündigte den Besuch des Polizeifotografen an. Man benötige Fotos für die Zeitungen, um herauszufinden, wer der junge Mann sei. «Entschuldigung!», fügte er zuletzt hinzu.
    Er starrte dem Fotografen entgegen, starrte auf den Apparat, der sich auf ihn richtete, und fing an zu schreien, begann alles zu werfen, was in seine Hände fiel: die Wasserflasche auf seinem Nachttisch, das Glas, den Obstteller, sein Kissen, die Bücher   …
    Der Fotograf duckte sich zwischen zwei Betten, der alte Gottberg legte schützend beide Arme über den Kopf.
    «Raus!», schrie er. «Raus! Und komm nicht wieder! Ihr kriegt mein Foto nicht! Nie, nie!»
    Dann stürzten Schwestern und Pfleger herbei, hielten ihn fest, sprachen beruhigend auf ihn ein, gaben ihm eine Spritze, und er dachte, dass er vielleicht auf einem anderen Planeten gelandet sei und sie ihn untersuchen wollten und dass der alte Mann ein Spion war, der nur so aussah wie ein menschliches Wesen.
    Als er wegdämmerte und gleich darauf einschlief, betrat der Fotograf erneut vorsichtig das Krankenzimmer. Die Schwester drehte den Kopf des jungen Unbekannten so, dass sein Gesicht halbwegs sichtbar wurde.
    Er bemerkte nichts davon. Nur der alte Gottberg hatte ein Gefühl, als sei er Zeuge eines Unrechts geworden. Ganz egal, wie man das rechtlich begründen konnte.
     
    Der nackte marmorne David von Michelangelo glänzte vor Nässe, und Angelo Guerrini fröstelte bei seinem Anblick. Guerrini wartete im Schutz der Loggia dei Lanzi, die Schulter an den Sockel des medusenköpfenden Herkules gelehnt. Wenn er nach oben schaute, sah er den triumphierend erhobenen Arm, der das abgetrennte Haupt hielt, und erschauerte ein zweites Mal. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, die wenigen, die über den Platz eilten, versteckten sich unter Regenschirmen und wirkten wie auf der Flucht.
    Guerrini sah auf die Uhr. Das Telefongespräch mit der Frau war jetzt fast fünfzig Minuten her. Ihm war kalt, und er fürchtete, dass sie es sich anders überlegt hatte und doch nicht kommen würde. Der Regen ging allmählich in Schnee über, doch die Flocken schmolzen, sobald sie den Boden erreichten.
    Noch zehn Minuten, dachte Guerrini. Ich warte noch zehn Minuten, dann rufe ich sie nochmal an. Er ließ den Blick über die dunklen Winkel hinter dem David gleiten,drehte ganz langsam seinen Kopf, den ganzen Körper, schaute neben sich, hinter sich, entdeckte ein Stück Regenschirm hinter der Skulptur vom Raub der Sabinerinnen, machte einen Schritt nach vorn, um genauer sehen zu können. Blitzschnell wurde der Regenschirm zurückgezogen.
    Guerrini dachte an Flavio, alias Rinaldo, und nahm seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter, runzelte die Stirn über sich selbst und steckte sie wieder zurück. Obwohl   … wer sagte eigentlich, dass nicht sie das Messer in den Oberbauch des jungen Mannes gerammt

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