Wie Krähen im Nebel
hatte? Vielleicht handelte es sich schlicht um ein Eifersuchtsdrama und hatte überhaupt nichts mit den Menschenhändlern zu tun. Guerrini hatte zu viele seltsame Fälle erlebt, um nicht alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen.
Langsam, dicht an das Geländer gedrängt, näherte er sich der Skulptur, diesem in Stein gehauenen Verzweiflungsschrei entführter Frauen, dachte, dass es ein passender Treffpunkt war, und dachte weiter, dass er manchmal merkwürdige Gedanken hatte. Jetzt trennte ihn nur noch der breite Sockel von der Besitzerin des Regenschirms. Guerrini war sicher, dass es sich um eine Besitzerin handelte. Er räusperte sich und sagte laut: «Signora, ich denke, dass Sie ebenfalls auf die Uccellini warten. Eigentlich hätten Sie schon vor einer halben Stunde hier sein sollen, aber bei diesem Wetter fliegen Vögel nicht gern. Was ich durchaus verstehen kann!»
Sie stand so unvermutet vor ihm, dass er einen Schritt zurückwich. Alles an ihr war schwarz: der lange Mantel, das große Wolltuch, das sie um ihren Kopf geschlungen hatte und das nur die Augen freiließ, der Regenschirm, ihre Stiefel und Handschuhe – alles schwarz.
«Was wollen Sie?» Ihre Stimme war klar und sie bemühte sich offensichtlich um einen harten Tonfall, doch es gelang nicht ganz.
«Ich muss mit Ihnen sprechen, Signora. Es geht um Flavio-Rinaldo. Er wurde niedergestochen und …»
Sie stieß eine Art Keuchen aus und packte Guerrinis Arm.
«Wann?»
«Letzte Nacht schon. Ich habe ihn in der Nähe seines Wagens am Bahnhof gefunden.»
«Ist er …?» Wieder keuchte sie.
«Nein, er ist nicht tot, wenn Sie das meinen. Er wurde operiert, und sein Zustand ist einigermaßen stabil.» Guerrini beobachtete sie genau. Der Schal rutschte ein wenig tiefer, doch sie zog ihn schnell wieder bis über die Nase.
«Woher wissen Sie das und woher soll ich wissen, dass nicht Sie ihn niedergestochen haben?», fragte sie, und ihre Stimme klang jetzt zu hoch.
«Tja!» Guerrini zuckte die Achseln. «Woher soll ich wissen, dass nicht Sie die Täterin sind? Es wird uns vermutlich nichts anderes übrig bleiben, als uns gegenseitig zu vertrauen. Jedenfalls im Augenblick … ich bin der Commissario, mit dem sich Flavio vorgestern Abend getroffen hat. Mit mir und der deutschen Commissaria. Vielleicht hat er Ihnen das erzählt. Wir haben gemeinsam mit ihm die Damen besucht, die gerade im Transfer sind – wie Sie das wohl nennen …»
Sie nickte.
«Gut!», fuhr Guerrini fort. «Was hat Flavio nach unserem Treffen gemacht? Hat er mit jemandem gesprochen, sich verabredet? Wollte er den Verbindungsmann sehen, der den Bahntransfer organisiert?»
Sie senkte den Kopf, schien plötzlich vor Kälte zu zittern. «Ich weiß nicht», flüsterte sie. «Er hat mir nie alles gesagt. Behauptete immer, dass er mich schützen müsste. Keiner von uns sollte zu viel wissen. Aber er wusste mehr als ich.»
«Ist das eine Annahme oder haben Sie konkrete Gründe das zu vermuten?»
«Natürlich, natürlich habe ich konkrete Gründe! Er hat die Fahrten zur kroatischen Grenze immer allein unternommen. Nur einmal, als eine der Frauen krank wurde, hat er mich in diese Wohnung mitgenommen … die Wohnung der Uccellini. Meine Güte – Rinaldo war nie besonders ordentlich, aber diese Wohnung war einfach schrecklich. Ich hatte ein Gefühl von Obdachlosen, Landstreichern, Verlorenen, als ich diese Wohnung sah. Ich habe ihm gesagt, dass man Frauen nicht so behandeln kann, nicht in einer solchen Umgebung warten lassen kann – aber er hat nur gelacht und mir Spießigkeit vorgeworfen. Es ginge um ganz andere Dinge …»
Sie hatte leise und eindringlich gesprochen, brach plötzlich ab und schluchzte auf. Guerrini beugte sich vor und berührte ihre Schulter.
«Wir könnten einen Kaffee trinken!», sagte er. «Es ist verdammt kalt hier. Oder wir könnten uns in meinen Wagen setzen. Er steht drüben am Bahnhof.»
«Nein!» Sie schüttelte heftig den Kopf. «Mir ist nicht kalt!»
«Mir schon!», murmelte Guerrini. «Aber wenn Sie nicht wollen. Können Sie mir erklären, um welche ‹ganz anderen Dinge› es Rinaldo ging?»
«Es ist nicht so leicht … um Freiheit, Menschenrechte, den Kampf gegen die bürgerliche Doppelmoral, die allein das organisierte Verbrechen möglich macht … so hat er es ausgedrückt. Er ist Sozialpsychologe, müssen Sie wissen.»
«Na ja!», erwiderte Guerrini. «So ganz Unrecht hat er nicht. Es ist tatsächlich die bürgerliche
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