Wie Krähen im Nebel
Menschen, die keinen Namen wollen – aber ich denke, dass es ziemlich selten vorkommt. Ein Name, das ist mehr als nur eine Bezeichnung für etwas. Also, wenn du zum Beispiel dein Bett nimmst. Ein Bett ist ein Bett, und darauf kann man liegen. Man braucht es, und deshalb ist esgut, dass es einen Namen dafür gibt. Aber der Name eines Menschen ist mehr als die Bezeichnung einer Funktion. Der Name ist ein Teil seiner Persönlichkeit, vor allem der Vorname. Meiner ist zum Beispiel Emilio, und das ist ungewöhnlich für einen Deutschen. Ich bin meinen Eltern noch immer sehr dankbar, dass sie mich nicht Emil genannt haben – was in den Zeiten, in denen ich geboren wurde, erheblich näher lag als Emilio.»
Der alte Gottberg lächelte vor sich hin. «Emilio passt wirklich gut zu mir. Das fand auch meine Frau und meine Tochter, und meine Enkel finden es auch. Deshalb ist es schade, wenn man seinen Namen einfach so verliert. Außerdem ist es gesetzlich verboten, keinen Namen zu haben. Aber das muss dich jetzt nicht beunruhigen. Du kannst schließlich nichts dafür, dass du deinen Namen verloren hast.»
Er antwortete nicht. Die Worte des alten Mannes kamen ihm unwirklich vor – schillernde Seifenblasen, die ein Echo hatten, wenn sie platzten. Trotzdem war er froh, dass der Alte da war. Ein Kontinuum, wie das Mittagessen, das morgendliche Fiebermessen, die Arztvisiten. Und er wollte etwas von dem Alten, ein Geschenk wie jeden Tag.
Weil der alte Mann jetzt still neben ihm saß und nichts mehr sagte, sondern zu warten schien, wurde er unruhig, meinte zu ersticken, obwohl das Fenster offen war.
Er hatte ihn noch nie um das Geschenk gebeten. Hatte es immer so bekommen. Jeden Tag ein Gedicht. Warum heute nicht? Schweiß lief über sein Gesicht, ungeduldig wischte er ihn fort. Warum sagte der Alte nichts mehr?
Ganz langsam wandte er den Kopf, schaute den Alten an, begegnete seinen Augen, freundlichen, ruhigen Augen. Der Alte wartete, worauf denn? Auf seinen Namen? Er kannte seinen Namen nicht. Nein, vielleicht wartete er auf etwas anderes. Er wollte nicht über Namen reden und auch nichtdarüber nachdenken. Er wollte ein neues Gedicht, über das er nachdenken konnte. Schluckte. Seine Kehle war ganz trocken. «Haben Sie …», setzte er an.
«Ja?» Der alte Herr lächelte freundlich.
«Haben Sie vielleicht ein neues Gedicht mitgebracht?»
Emilio Gottberg nickte. «Jaja, natürlich habe ich wieder eins mitgebracht. Ein ganz besonderes diesmal. Ich habe es gelesen, als meine Frau starb. Das war in einem November vor vielen Jahren, und danach hatte ich auch eine Weile meine Erinnerung verloren. Du musst überlegen, ob du es hören willst … es ist nicht sehr fröhlich. Aber es traf damals genau meinen inneren Zustand, und es half mir zu weinen. Also denk drüber nach, ob du es aushältst.»
Er war erleichtert. Der alte Mann hatte das Geschenk mitgebracht.
«Ich möchte es nicht vorlesen!», sagte Emilio Gottberg. «Vielleicht ist es am besten, wenn du es selbst liest. Mir geht es noch immer zu nahe.» Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, entfaltete es und reichte es dem jungen Mann.
Der nahm das Blatt und legte es vor sich auf die Bettdecke, hob es wieder an und begann zu lesen. Die sorgfältig gemalten Buchstaben fügten sich zu Worten, und als er den Namen des Dichters las, kam es ihm vor, als zuckte ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört, wurde wieder von einem dieser Schatten gestreift, die er nicht fassen konnte.
Friedrich Nietzsche
stand da. Warum machte es ihm Angst, wenn er einen Namen hörte? Er las weiter, versuchte die Angst nicht wahrzunehmen.
Vereinsamt
Dieses Wort kannte er. Vielleicht beschrieb es genau das, was seinen Zustand ausmachte. Weiter!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Er las schneller:
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer
das
verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Er schloss die Augen, atmete schwer. Er kannte dieses Gedicht. Es stieg aus diesem dunklen Loch in seinem Bewusstsein auf, doch ohne jeden Bezug. Das war es, was die Angst auslöste. Er hatte keinen Bezug. Selbst wenn er meinte, sich an etwas zu erinnern, blieb es beziehungslos. Schwebte in seinem Kopf herum. Und dann kam
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