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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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waren inzwischen schon alte Bekannte, denn am Morgen hatte immer derselbe Beamte Dienst, und Gottberg kam täglich gegen halb zehn, um den jungen Unbekannten zu besuchen.
    Das Zimmer war überheizt, obwohl das Fenster offen stand. Noch immer teilte der bleiche Mann mit den Kopfverbänden den Raum mit Pier Paolo, der unbeweglich im Bett am Fenster lag und die meiste Zeit hinausstarrte, obwohl er längst in der Lage war, aufzustehen und herumzulaufen. Aber er stand nicht auf. Ging nur hin und wieder auf die Toilette oder duschte, dann legte er sich wieder hin. Sein dunkles Haar war inzwischen nachgewachsen und sah seltsam zweigeteilt aus mit dem blond gefärbten Schopf, der fast auf seine Schultern reichte. Er wollte sich die Haare nicht schneiden lassen, obwohl die Schwestern es ihm angeboten hatten. Er rasierte sich auch nicht, deshalb trug er inzwischen einen kurzen dunklen Vollbart, der sich langsam an den Enden kräuselte. Er wollte sich auch nicht rasieren, wollte gar nichts. Nur aus dem Fenster schauen und ab und zu in den Büchern lesen, die der alte Mann ihm brachte.
    Am liebsten las er Gedichte, auf Deutsch. Lieber als auf Italienisch oder gar Englisch. Der alte Mann hatte es mit allen Sprachen versucht. Pier Paolo begriff nicht genau, wasder alte Mann von ihm wollte, aber er empfand seine regelmäßigen Besuche irgendwie als angenehm. Er wusste nicht, warum der Alte ihn Pier Paolo nannte. Es spielte aber letztlich keine Rolle. Immerhin hatte der alte Mann ihm ein paar Anhaltspunkte in dieser unklaren Existenz gegeben, ihm ein wenig das Leben erklärt. Und irgendwann in den letzten Tagen hatte sich der Begriff München von der Bedeutungslosigkeit in das Bild einer Stadt gewandelt und mit einer sehr schwachen Erinnerung an etwas verbunden, das er in sich trug.
    Seitdem konnte er nachts nicht mehr schlafen, weil ihn diese schattenhaften Ahnungen heimsuchten, die er nicht greifen konnte und die vor ihm flohen, als wollten sie sich über ihn lustig machen. Manchmal meinte er, sie lachen zu hören, und schrie hinter ihnen her. Dann rief sein Zimmergenosse die Schwester.
    Er konnte der Schwester nicht sagen, dass er mit seinem Schrei die Erinnyen vertrieben hatte, die Rachegöttinnen. Denn er war sicher, dass sie es waren, die ihn verfolgten. Und manchmal dachte er, dass er aus einer anderen Zeit in diese Stadt geraten war und sich deshalb nicht erinnern konnte. Vielleicht gab es so etwas wie Zeitmaschinen oder Gleichzeitigkeiten von Zeit und Raum.
    Doch all diese Überlegungen beruhigten ihn nicht, sondern verstärkten seine Rastlosigkeit. Vielleicht war er in Gefahr   … Vielleicht hatte man ihn in dieses Krankenhaus gesteckt, um ihn unter Kontrolle zu halten, weil er aus einer anderen Welt kam. Vielleicht erschien dieser alte Mann nur deshalb Tag für Tag, um ihn auszuhorchen.
    Aber er begriff ja selbst nicht, warum er in verschiedenen Sprachen sprechen konnte, warum ihm bestimmte Gedichte bekannt vorkamen – deutsche Gedichte, sogar ein paar englische und viele italienische – aber am meisten die deutschen.Nicht unbedingt die Namen der Dichter, aber die Bedeutung der Worte.
    Und als an diesem Morgen der alte Gottberg wieder an sein Bett trat, einen Stuhl heranrückte und ihn freundlich grüßte, da drehte er sich angstvoll weg und spürte, wie seine Haut feucht wurde.
    «Wie geht es dir heute, Pier Paolo?»
    Er antwortete nicht. Wenn er bisher diesen fremden Namen akzeptiert, ja beinahe komisch gefunden hatte, erschien er ihm plötzlich wie eine Vergewaltigung. So, als wollte man ihn in etwas verwandeln, das er nicht war.
    «Ich heiße nicht Pier Paolo!», flüsterte er.
    Der alte Mann nickte. «Jaja, ich weiß. Aber solange du deinen richtigen Namen nicht kennst, müssen wir einen Kompromiss finden. Es wäre ja schön, wenn du dir selbst einen Namen aussuchen würdest, aber das hast du bisher nicht getan.»
    Er lag da, mit geschlossenen Augen, spürte nichts als diese endlose Leere in sich, diesen Abgrund, der sich stets auftat, wenn er versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, das mit ihm und seinem Namen zusammenhing. «Kann man nicht namenlos sein?», murmelte er.
    «Wie?» Der alte Gottberg beugte sich zu ihm. «Ich habe dich nicht verstanden?»
    «Namenlos! Kann man nicht namenlos sein? Wer schreibt vor, dass jeder einen Namen haben muss? Vielleicht gibt es Menschen, die gar keinen Namen wollen!» Er sprach heftig, doch nicht zu dem alten Mann, sondern zum Fenster hin.
    «Natürlich gibt es

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