Wie Krähen im Nebel
nach Luft.
«Also», unterbrach Laura seinen Wortschwall. «Ich wollte eigentlich keine Vermutungen über den Unfall von Ihnen wissen, sondern ganz schlicht Ihren Eindruck. Das mit der Upper Class war schon mal nicht schlecht. Vielleicht sonst noch was?»
Er senkte den Kopf und schaute auf seine abgewetzten weißen Turnschuhe.
«Er hat einen guten Körper ohne besondere Merkmale. Keinen Leberfleck, keine Tätowierungen, kein Piercing, keinen Ohrring. Ist …», er zögerte, sprach dann aber hastig weiter, «… ist nicht beschnitten, wenn Sie wissen, was ich meine!»
«Sie haben ja ganz schön genau hingeschaut!» Laura warf dem Pfleger einen scharfen Blick zu.
Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, sein Kopf sank wieder tiefer, als zöge er den Hals ein. Plötzlich erinnerte er Laura an eine Schildkröte mit roten Backen. Und sie fragte sich, ob es schwule Schildkröten gab.
Ich muss mit diesen Tiervergleichen aufhören, dachte sie. Das wird allmählich zwanghaft. Hoffentlich liegt es nur daran, dass ich so wenig geschlafen habe.
«Welche Nationalität hat er Ihrer Meinung nach?» Sie versuchte sachlich zu bleiben.
Er zuckte die Achseln.
«Kann alles sein. Wirklich. Heute sehen sie doch alle gleich aus. Färben sich die Haare blond, tragen die gleichen Unterhosen, Jeans, T-Shirts . Ich hab wirklich keine Ahnung.»
«Danke!» Laura nahm ihm den Müllsack ab.
Stefan Brunner hatte sich geweigert, ein Schlafmittel zu nehmen. Er musste herausfinden, was genau geschehen war. In seinem Kopf wechselten unscharfe Bilder, Farben, sogar Töne.
Er erinnerte sich an den stechenden Schmerz in seinem rechten Arm, aber was mit seinem linken Bein passiert war, davon hatte er nicht die geringste Ahnung.
Zwischen dem Schmerz im Arm und der Erkenntnis, dass er nicht mehr aufstehen konnte, lag tiefe Dunkelheit, ein unheimliches schwarzes Loch, das ihm Angst machte, ihn wegsaugte.Er kam sich vor wie jemand, der plötzlich nicht mehr sehen kann und mit ausgestreckten Armen und tastenden Fingern vor einem Abgrund steht. Ihm wurde übel, wenn er seine Gedanken auf dieses schwarze Loch lenken wollte.
Inzwischen hatte er wenigstens begriffen, dass er sich in einem Krankenhaus befand, hatte auch die Fahrt im Rettungswagen nacherlebt und als Wirklichkeit erkannt. Aber jemand hatte ihm Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte. Obwohl der Fragende Deutsch sprach, hatten die Worte in seinem Kopf keinen Sinn ergeben, und auch das machte Brunner Angst. Selbst jetzt machte es ihm Angst, obwohl er den Arzt und die Krankenschwester inzwischen wieder verstand. Er würde noch ein paar Mal geröntgt und dann operiert werden – das hatten sie gesagt. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht mit seinem linken Bein, aber er hatte noch nicht die Kraft gefunden danach zu fragen. Er spürte es nicht. Vielleicht war es nicht mehr da?
Es musste da sein, wo sollte es denn hingekommen sein? Brunner lag ganz still da und fand es beruhigend, das Laken unter sich zu spüren und die warme Decke über sich. Es gab auch keinen Nebel mehr.
Jetzt stand auf einmal diese fremde Frau an seinem Bett und sah ihn an. Sie sagte, dass sie Polizistin sei und ob er Schmerzen hätte.
«Ja, nein», sagte er und lauschte erstaunt seiner Stimme nach, die ihm fremd und schwach vorkam, obwohl er der Meinung war, ganz normal zu reden.
Die Frau lächelte mit ernsten Augen, und Brunner dachte, dass ihm noch nie aufgefallen war, dass man mit ernsten Augen lächeln kann.
«Schmerzen und nicht Schmerzen», sagte sie jetzt. «Ich werde Sie nicht lange stören, Herr Brunner. Der Arzt hat mir genau fünf Minuten gegeben!»
Herr Brunner, dachte Stefan Brunner. Das bin ich, und sie weiß es!
Auch das beruhigte ihn. Dass sie seinen Namen kannte, stimmte ihn zuversichtlich. Bald würde er erfahren, was geschehen war. Vorsichtig hob er den Kopf ein bisschen an, um sie besser sehen zu können. Sie hatte dunkle Locken, ihr Gesicht war blass und müde.
«Es ist wahrscheinlich besser, wenn Sie sich nicht bewegen!», sagte sie leise und beugte sich zu ihm herab.
«Ist es so schlimm?»
«Nicht katastrophal», lächelte sie wieder mit diesen ernsten Augen. «Aber auch nicht besonders gut! Trotzdem können Sie stolz auf sich sein, Herr Brunner. Sie haben vermutlich einem jungen Mann das Leben gerettet.»
Stefan Brunner schloss die Augen. Das war es also, was er fragen wollte. Wie es dem anderen ging, diesem Körper, den er zur Seite gewuchtet hatte, gerollt, gezerrt
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