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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Antworten sind so undurchdringlich wie der Nebel vor dem Fenster. Ist Ihnen das eigentlich bewusst, Signor Bertolucci?»
    Er schüttelte den Kopf.
    «Aber Sie sind doch Commissaria, wenn Sie einen Menschen sehen, dann wissen Sie doch sicher auch sehr schnell, was für eine Art Mensch er ist, nicht wahr? Das ist so ein Gefühl. Das setzt sich aus tausend kleinen Dingen zusammen. Ich erkenne einen Deutschen, auch wenn er perfekt Italienisch spricht, oder einen Amerikaner, auch wenn der den Mund hält. Genauso kann ich eine Dame von einer Putzfrau unterscheiden oder einen Bauern von einem Bankdirektor. Aber Sie können das auch, Signora, nicht wahr? Können Sie es beschreiben, warum? Können Sie?»
    «Ich denke doch, wenn ich mir Mühe gebe», murmelte Laura. «Wie würden Sie denn mich einschätzen, Signor Bertolucci?»
    Er sah sie kurz an, schaute weg und wieder hin. «Das ist nicht fair, Commissaria. Das können Sie nicht von mir verlangen!»
    «Ich möchte Sie nur testen. Ich muss doch wissen, ob ich mich auf Ihre Aussage verlassen kann. Also, bitte!» Laura lehnte sich zurück und sah ihn forschend an. Bertolucci dagegen betrachtete seine Mütze.
    «Wollen Sie mich nicht ansehen?»
    «Nein!» Er schüttelte seinen Kopf. «Dazu brauche ich Sie nicht anzusehen. Es ist schon alles da! Da drin!» Er tippte an seine Stirn. «Das geht ganz schnell, müssen Sie wissen. Ich sehe einen Menschen und es macht klick, klick, und schon ist alles da oben gespeichert, all die tausend kleinen Dinge.» Er seufzte. «Ich möchte es lieber nicht sagen, Signora.»
    «Ist es so schlimm?» Laura unterdrückte mit Mühe ein Lachen.
    «Nein, nicht schlimm. Aber verwirrend. Sie sind nicht einfach jemand, von dem ich sagen kann: typische Deutsche oder so. Sie sind gemischt, Signora. Da ist etwas in Ihnen, das fühlt sich an wie deutsch, sehr deutsch sogar. Etwas Ernstes. Und Ihre Augen schauen genau hin – Italiener schauen eher weg. Und Sie sind so hartnäckig, wenn Sie etwas wissen wollen. Das ist sehr deutsch. Aber in Ihren Bewegungen liegt etwas anderes, etwas Leichtes – eher italienisch. Genau wie Ihr Gesicht, Ihre Haare und Ihr Lächeln. Anna Magnani hat so gelächelt, falls Sie die überhaupt noch kennen, Signora. Die Jungen kennen die Magnani nicht mehr, und das ist schrecklich. Sie kennen nur noch diese amerikanischen Puppengesichter. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich finde, Sie haben etwas von beiden Nationalitäten, aber das Deutsche ist stärker. Sie sind ja auch Deutsche, nicht wahr, Signora Commissaria? Wo haben Sie so gut Italienisch gelernt?»
    Laura lachte leise. «Mit wem haben Sie sich unterhalten, ehe Sie dieses Zimmer betraten, Signor Bertolucci?»
    Er breitete wieder die Arme aus. «Mit niemandem, Commissaria, bei der Ehre meiner Mutter, mit niemandem!»
    «Na gut! Ich bin Halbitalienerin. Meine Mutter wurde in Florenz geboren, mein Vater ist Deutscher. Vielleicht hätten Sie doch Hellseher werden sollen, Signor Bertolucci.»
    Er lächelte bescheiden.
    «Und jetzt erzählen Sie mir bitte von der Frau mit den roten Haaren, die Sie für eine Prostituierte gehalten haben.»
    Der Schaffner zog die Augenbrauen erst hoch, dann zusammen und legte seine Stirn in unzählige Falten.
    «Sie war sehr freundlich, wie ich schon sagte. Aber sie hat die Menschen, vor allem die Männer, mit einem ganz schnellen, kalten Blick taxiert. Verstehen Sie? Es ist ein Unterschied, ob man jemanden taxiert oder ansieht. Sie hatte eine Ausstrahlung wie jemand, der zu viel vom Leben weiß – und nicht das Beste. Der Dinge weiß, die man besser nicht wissen sollte, vor allem als Frau. Etwas Vulgäres – nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Man kann diese Dinge nicht mit Worten beschreiben, Commissaria. Das sind Schwingungen, Ahnungen, Gefühle. Und außerdem hatte sie Angst. Nicht sehr große, aber sie war auf der Hut. Sie hat dagesessen und sich fast die ganze Zeit hinter Zeitschriften versteckt. Und sie hat die Leute beobachtet, die an ihr vorbeigingen.»
    «Hat sie mit jemandem gesprochen?»
    «Das weiß ich nicht.»
    «Wissen Sie noch, wo sie in den Zug gestiegen ist?»
    «Das müssen Sie doch ganz leicht feststellen können. Es steht auf ihrem Fahrschein, Signora!» Er lächelte ein wenig spöttisch.
    «Wir haben keinen Fahrschein gefunden, auch keinen Ausweis und auch sonst nichts. Nur einen Lippenstift, ein Parfümfläschchen und einen leeren Lederrucksack.»
    «Aber sie hatte einen großen Koffer, Signora, und den Fahrschein

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