Wie Krähen im Nebel
ein paar interessante Tätowierungen: eine Schlange an der Innenseite ihres rechten Oberschenkels und eine, die über ihre gesamte Wirbelsäule verlief, mit dem Kopf nach unten. Daraus würde ich nicht unbedingt schließen, dass sie eine brave Ehefrau war oder Nonne. Andererseits sind Tätowierungen unter jungen Leuten heute sehr beliebt. Außerdem war sie im Schambereich rasiert. Die Schaffner könnten also mit ihrer Vermutung richtig liegen. Es gibt jedoch keine eindeutigen Hinweise.»
«Und sonst?», fragte Laura.
«Der aufgesetzte Schuss ins Herz, vermutlich mit Schalldämpfer. Sie war sofort tot. Keine Spur einer Misshandlung, kein Geschlechtsverkehr. Abgesehen von der tödlichen Verletzung war sie relativ gesund, bis auf eine leichte Schwächung der Lungen. Könnte Hinweis auf eine frühere Tuberkulose sein.»
Kriminaloberrat Becker lehnte sich zurück und rieb nachdenklich die Handflächen aneinander.
«Wo ist ihr Gepäck?», fragte er und sah von einem zum andern. «Man reist nicht von Florenz nach München ohne Gepäck, nicht wahr?»
«Beide Schaffner haben bestätigt, dass die Frau einen Koffer hatte. Aber der ist verschwunden», antwortete Laura.
«Und was ist mit den beiden Verletzten, die auf den Gleisen gefunden wurden?» Becker drehte nervös an seinem Ehering.
«Bisher wissen wir noch nicht, ob der Unbekannte irgendwas mit dem Eurocity zu tun hat. Es könnte sich auch um einen gewöhnlichen Selbstmörder handeln!» Das war die Stimme des Polizeibeamten, der den vermeintlichen Unfall aufgenommen hatte. «Wir haben sonst nichts gefunden – keine Gepäckstücke, überhaupt nichts.»
Gewöhnlicher Selbstmörder, dachte Laura. Sag ich auch solche Sachen? Sie betrachtete den Kollegen von der Seite. Er war ziemlich jung, höchstens Mitte zwanzig, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck eines eifrigen Schülers. Laura hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Gewöhnlicher Streber, dachte sie, mochte aber auch diesen Gedanken nicht. War nicht viel besser als gewöhnlicher Selbstmörder.
«Hier kann ich ein paar Informationen einfügen!», sagte sie laut. «Ich habe die Verletzten heute Morgen im Krankenhaus gesehen. Der Rangierarbeiter Brunner war bei Bewusstsein und erzählte von einer Gestalt, die weglief, als er den jungen Mann fand. Aber er konnte nichts erkennen, weil der Nebel so dicht war. Der Unbekannte selbst liegt im Koma. Er trug keine Papiere bei sich. Seine Kleidung habe ich ins Labor gebracht.»
Ein paar Minuten lang war es ganz still in dem Raum, der eigentlich zu klein für die vielen Menschen war. Laura nahm den Geruch von bitterem schwarzem Kaffee wahr; Baumanns rechtes Bein zuckte, und der Arzt schluckte sehr laut.
«Na ja!», sagte Becker endlich. «Das ist ja nicht besonders viel. Hängt euch mal ein bisschen rein, Kollegen. Wir treffen uns übermorgen wieder, um …» Er schaute lange auf seine Armbanduhr. «Na, sagen wir, um sechzehn Uhr. Dann habt ihr etwas mehr Zeit. Sie übernehmen die Kontakte zu den italienischen Behörden, Laura.»
Laura nickte. Vielleicht, dachte sie, hat ein freundlicher Geist mir diesen Fall geschickt. Obwohl – es gab eigentlich keine Möglichkeit, Angelo Guerrini in die Ermittlungen einzubeziehen.
Aber, dachte Laura ganz schnell, ich könnte nach Florenz fahren, um nach den Spuren der toten Frau zu suchen, und dann könnten wir uns treffen. Vielleicht.
Der Nebel blieb über der Stadt hängen, obwohl Hochdruck herrschte. Er setzte sich ganz unten fest. Wenn die Menschen nach oben schauten, konnten sie um die Mittagszeit die Turmspitzen und Hochhäuser in der Sonne leuchten sehen – unwirklich wie durch eine Milchglasscheibe. Unten, zwischen den Häusern, war es feuchtkalt. Wer auf den Turm des Alten Peter oder auf den Liebfrauendom stieg, fand sich unvermutet in der Sonne. Tauben, Spatzen und Krähen saßen auf den höchsten Dächern, um sich zu wärmen.
Im Norden der Stadt war der Nebel dichter als im Süden, dort gab es auch keine Türme in der Sonne. Nur graukalte Dämmerung.
Wie schmutzig die Stadt aussieht, wenn es keine Sonne gibt, dachte Laura. Bei Regen war es genauso. Alles sah grau und schmutzig aus. Wie der Fall rund um den Eurocity. Ein Novemberfall. Laura konnte den November nicht leiden, hatte ihm den Namen «Monat ohne Hoffnung» gegeben. War jedes Jahr froh, wenn er endlich vorüberging. Den ganzen Nachmittag hatte sie damit zugebracht, E-Mails an die Kollegen in Florenz, Bologna, Mantua und Bozen zu schicken. Und sie stöberte
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