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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Gewissheit, nein – besser Ahnung, ja Ahnung. Ich habe öfters solche Ahnungen und irre mich nur selten. Meine Mutter hatte ebenfalls diese Gabe, wenn man es eine Gabe nennen darf. Manchmal ist es eher belastend. Wissen Sie, eines Nachmittags klingelte es an unserer Tür. Ich war damals zehn Jahre alt. Klingelte an der Tür, und meine Mutter sagte zu mir: Jetzt müssen wir ganz tapfer sein, Sergio. Dein Papa ist gestorben! Ja, und vor der Tür stand ein Polizist, der sagte: Signora, Sie müssen jetztganz tapfer sein, Ihr Mann hatte einen Arbeitsunfall. Mama konnte diese Dinge nicht genau voraussehen, aber wenn sie geschehen waren, dann wusste sie es! Haben Sie alles verstanden, Signora Commissaria?» Sergio Bertolucci hielt inne, schien erstaunt über seine eigene lange Rede, mindestens so erstaunt wie Laura. Er sah auch nicht mehr müde aus, sondern seine Haut hatte sich auf wunderbare Weise geglättet, war auf einmal rosig, und seine Augen glänzten.
    «Oh!», sagte sie nach einer Weile. «Und wann genau haben Sie gewusst, dass es diese Frau ist und keine andere?»
    «Genau in dem Augenblick, als Fabio sagte, dass jemand ermordet wurde. Da stand dieses Bild vor meinen Augen: die Frau mit den roten Haaren. Sehen Sie, ich habe lange davon geträumt, Hellseher zu werden, aber dazu reichte es nicht ganz   … leider. Ich hätte sicher mehr Geld verdienen können als bei der Bahn. Die Leute zahlen viel Geld, wenn man ihnen die Zukunft sagen kann. Wie würden Sie das nennen, was ich kann, Signora? Etwas Geschehenes voraussagen? Dafür wird niemand bezahlen, fürchte ich!» Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
    Laura betrachtete ihn nachdenklich und fragte sich, warum er so viel reden musste. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Eigentlich wusste sie jetzt nicht einmal mehr, was sie ihn fragen wollte oder was sie gefragt hatte. Sie wusste nur, dass diese verloren gegangene Frage nicht beantwortet worden war. Deshalb sagte sie erst einmal gar nichts, sondern rührte schweigend den Kaffee um, den die Sekretärin ihr vor einer halben Stunde hingestellt hatte. Er war inzwischen kalt.
    Bertolucci rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, legte die Mütze auf Lauras Schreibtisch, nahm sie wieder in beide Hände, drehte sie, räusperte sich zweimal und sagte endlich: «Kann ich gehen oder brauchen Sie mich noch, Signora Commissaria? Ich habe nämlich noch nicht gefrühstückt,und wenn ich Ihren Kaffee sehe, dann bekomme ich Durst auf einen Cappuccino   …»
    «Warum reden Sie eigentlich so viel?», unterbrach Laura den Schwall, der wieder aus dem grauhaarigen Mann hervorzubrechen drohte.
    Bertolucci schluckte.
    «Es tut mir Leid!», sagte er leise.
    «Es muss Ihnen nicht Leid tun. Ich wollte nur wissen, warum Sie es tun.»
    Er zuckte die Achseln, wiegte den Kopf leicht hin und her. «Ich bin nervös! Wenn ich nervös bin, rede ich immer ziemlich viel. Das habe ich schon als Kind getan. Meine Mutter   …»
    «Ja!», sagte Laura. «Jetzt ist mir auch meine Frage wieder eingefallen. Das mit Ihrer Hellseherei überzeugt mich nicht ganz. Warum überrascht es Sie nicht, dass genau diese Frau ermordet wurde?»
    Der Schaffner breitete die Arme aus; seine Mütze fiel zu Boden, aber er achtete nicht darauf.
    «Es ist Intuition, Commissaria, ich kann in die Menschen hineinsehen. Da war etwas an dieser Frau, etwas Dunkles, Tragisches, obwohl sie lächelte. Sie war sehr freundlich, ja, ich würde sagen – zu freundlich.»
    «Woher wissen Sie das so genau?» Laura beugte sich ein wenig vor.
    «Signora! In meinem Beruf hat man es mit tausenden Menschen zu tun. Sie gehen durch meine Hände wie ihre Fahrkarten, und ich schaue jedem ins Gesicht. Jedem und jeder, Signora. Sie prägen sich mir ein: ihre Augen, ihre Münder, ihre Hände. Diese Frau habe ich zweimal kontrolliert und bin mindestens zehnmal an ihr vorbeigegangen. Mindestens!»
    Er nickte und hob seine Mütze auf, prüfte sie sorgfältig auf Staub oder Schmutz.
    «Das beantwortet noch immer nicht meine Frage, Signor Bertolucci: Was am Gesicht oder an der Ausstrahlung dieser Frau machte sie zu einem potenziellen Mordopfer?»
    «Sie war eine Prostituierte,
una puttana
. Es tut mir Leid, Commissaria, ich spreche solche Worte nicht gern aus. Sie war eine, ganz unverkennbar, obwohl sie so tat, als wäre sie’s nicht.» Die Worte brachen so plötzlich und heftig aus ihm hervor, dass Laura vor Schreck zusammenzuckte.
    «Woran haben Sie es gesehen? Ihre

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