Wie Krähen im Nebel
sofort, und Laura konnte ihn förmlich sitzen sehen, mit gerunzelter Stirn, darüber nachdenkend, ob all das ein Irrtum war.
«Du hast mir noch gar nichts von diesem Fall erzählt.» Seine Stimme klang ruhig.
«Ach, ich will mit dir auch nicht über irgendwelche Fälle reden. Sag mir lieber, wie es dir geht!»
«Wie allen Sienesern, wenn der Nebel kommt: Mir ist kalt, und ich wünschte, es wäre schon Frühling. Außerdem …» Ein paar Sekunden lang war es still in der Leitung, dann räusperte er sich und sagte wie beiläufig: «Außerdem vermisse ich dich.»
«Nur noch vier Wochen.»
«Das ist eine lange Zeit.»
«Nicht, wenn du in meinen Schuhen stecken würdest, Angelo. Und jetzt kommt auch noch Weihnachten!»
Wieder antwortete er lange nicht, und Laura wusste, was diese Stille bedeutete. Er würde gern Weihnachten mit ihr und den Kindern verbringen, und sein Wunsch war verständlich. Trotzdem machte er Laura ärgerlich, denn sie wollte genau das nicht. Was zwischen ihr und Angelo entstanden war, ging ihre Kinder nichts an. Es war dieses kostbare Stückchen Leben außerhalb aller Verantwortung, selbstaußerhalb der Liebe, die sie zu ihren Kindern empfand. Sie wollte das nicht vermischen – noch lange nicht und vielleicht nie.
«Ich habe noch viele Urlaubstage. Falls du meine Unterstützung brauchst, könnte ich jederzeit kommen.»
Laura biss auf ihre Unterlippe.
«Warum sagst du das immer wieder, Angelo? Ich freu mich so auf Venedig, aber ich möchte vorher kein Familienfest mit dir feiern! Ich möchte mit dir zusammen sein! Nur mit dir! Wir müssen doch erst herausfinden, wer wir sind, was wir für einander bedeuten. Ich will nicht, dass du mich als Mutter zweier Halbwüchsiger erlebst, die dich mit Argusaugen betrachten.»
«Hast du es ihnen schon gesagt?»
«Nein. Ich weiß, ich bin feige, aber ich möchte es ihnen erst sagen, wenn ich sicher bin. Hast du es denn deinem Vater schon gesagt oder deiner Noch-Ehefrau Carlotta?»
«Nein. Es könnte gefährlich werden. Er war bei den Partisanen, und Carlotta könnte beschließen zurückzukommen. Sie war früher sehr eifersüchtig!» Angelo und Laura brachen gleichzeitig in Gelächter aus, und die Schwere in ihrem Gespräch flog davon.
«Was machen wir nur für Eiertänze!», sagte Laura. «Ich sag dir eins, Angelo. Es ist viel einfacher, einen Mordfall zu lösen, als mit dem Liebsten zu telefonieren.»
«Jetzt weiß ich wenigstens, warum du nicht angerufen hast.»
«Ist es schlimm für dich, wenn ich dir sage, warum ich dich nicht in München sehen möchte?»
Wieder eine Pause.
«Nein, ja … ich weiß nicht, Laura. Wahrscheinlich hast du Recht und bewahrst mich vor einer großen Dummheit. Ich brauche immer ziemlich lange, ehe ich etwas wirklichwill. Aber wenn ich es will, dann kenne ich irgendwie keine Grenzen.»
Laura begann wieder Kreise auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Kreise mit Gesichtern, traurigen und lustigen.
«Vielleicht liegen nicht ohne Grund zwei Gebirgszüge zwischen uns, Commissario», lachte sie leise. «Du überwindest den Apennin, ich die Alpen, und wir treffen uns in der Po-Ebene. Die Alpen sind mein Schutzwall, deshalb sind sie höher als der Apennin!»
«
Ho capito, commissaria!
Wie häufig darf ich dich anrufen?»
«Ach, lass das, Angelo. Ruf mich an, wenn du mit mir reden willst. Ich werde es genauso machen. Nur bedräng mich nicht, bitte. Ich möchte von dir keinen Druck. Davon hab ich genug. Unsere Begegnung war so wunderbar leicht … ich möchte nicht, dass sie schwer wird.»
Pause. Laura hörte eine fremde Stimme im Hintergrund, Guerrini sprach, bedeckte aber offensichtlich die Sprechmuschel mit seiner Hand. Fernes Gemurmel. Dann wieder Angelo, klar und laut.
«Du hast völlig Recht. Ich möchte das auch nicht. Und es lag auch nicht in meiner Absicht.
Scusa, cara!
Ich muss jetzt Schluss machen – wir haben auch wieder einen Fall. Unklare Todesursache eines Pensionärs. Mein Kollege nimmt an, dass seine Frau ihn vergiftet hat, weil sie es nicht aushielt, dass er ständig zu Hause war.»
«Hat sie wahrscheinlich auch. Das kommt von schweren Beziehungen, caro! Ciao!»
«Ciao!»
Laura lauschte seinem dunklen Lachen nach, mit dem er sich verabschiedet hatte, und fragte sich, ob er sie verstehen konnte.
Eines hatte sie in ihrem vierundvierzigjährigen Leben begriffen:dass es sehr schwierig war, die eigenen Gefühle anderen klar zu machen, und ebenso schwer, die Gefühle anderer zu begreifen.
Laura
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