Wie Krähen im Nebel
«Oder möchten Sie doch in die Luft fliegen?» Mit großen Schritten lief sie den endlos langen Bahnsteig entlang, und nach kurzem Zögern folgte der junge Mann. Gleichzeitig sprangen sie hinunter auf die Schienen. Die Schwellen waren glitschig, und Laura stolperte mehrmals. Außerhalb der Bahnsteige war es dunkel und der Nebel dichter, er befeuchtete ihre Gesichter, setzte sich in winzigen Tröpfchen auf Lauras Haar. Vom Eurocity war bereits nichts mehr zu sehen. Zum Glück hatte der junge Beamte eine Taschenlampe bei sich, und so rutschten und sprangen sie über Schotter, Schwellen, Gleise bis zum nächsten S-Bahnhof .
Dort stand der Zug. Der Polizist kletterte auf den Bahnsteig und reichte Laura die Hand, zog sie zu sich herauf.
«Danke», sagte sie. «Wie heißen Sie eigentlich?»
«Zwicknagel. Hans Zwicknagel!»
«Danke, Hans! Und jetzt sperr die Augen auf und such nach den Schaffnern und jedem, der nach Zugpersonal aussieht. Halt sie einfach fest, bis ich wieder bei dir bin!»
Sie waren gerade zur rechten Zeit angekommen, denn nur wenige Minuten zuvor hatten sich die Türen des Eurocity geöffnet, und die Reisenden durften den Zug unplanmäßig verlassen. Es herrschte große Verwirrung. Niemand wusste wohin. Viele Menschen waren verärgert, schimpften laut vor sich hin.
Laura entdeckte den Schaffner Sergio Bertolucci inmitten einer italienischen Großfamilie, die laut und wild durcheinanderfragte, wie zum Teufel man von hier aus nach Moosach gelangen könnte, wenn nichts mehr funktioniere. Bertolucci streckte die Arme abwehrend nach oben, bat um Ruhe, brüllte endlich und erklärte, dass er selbst keine Ahnung habe, weil er nur die größeren Verbindungen kenne und nicht den Münchner Stadtverkehr.
«Ihr wohnt doch hier! Woher soll ich das wissen? Ich wohne in Bologna! Da kenn ich mich auch aus!»
Laura musste lächeln, als sie das verzweifelte Gesicht des Schaffners sah, der jetzt mit milden Verwünschungen überschüttet wurde, ehe die Großfamilie sich Richtung Ausgang in Bewegung setzte. Erleichtert nahm er seine Mütze ab, strich sich über Stirn und Haare, blies die Backen auf und stieß hörbar die Luft aus.
«Signor Bertolucci!» Lauras Stimme ließ ihn herumfahren, als erwarte er einen Angriff. «Scusi», sagte sie. «Ich wollte Sie nicht erschrecken. Herrscht schon genug Verwirrung, nicht wahr?»
Bertolucci starrte sie an, war plötzlich blass geworden. Oder lag das am Neonlicht?
«Was machen Sie denn hier, Commissaria?», stammelte er. «Hat das etwas mit der Bombendrohung zu tun? Es ist ja unglaublich, incredibile, was diese Terroristen sich erlauben. Aber vielleicht ist es nur ein Verrückter. Gibt ja unzählige Verrückte auf dieser Welt! Wahrscheinlich sind die Terroristen auch verrückt! Wir sind seit neun Stunden im Dienst, Commissaria, und jetzt dieses Chaos! Ich wollte mit meinem Kollegen ein schönes bayerisches Bier trinken und dann schlafen gehen. In aller Ruhe, Commissaria …»
«Pause!», sagte Laura.
«Come? Was?»
«Ich sagte Pause. Sie können das Bier mit mir und Ihren Kollegen trinken.»
«Deshalb sind Sie hier? Um mit mir ein Bier zu trinken?»
«Ja, so kann man es sagen. Ich bin außerdem daran interessiert, ob Sie diese Bombenwarnung vorausgesehen haben …» Sie schüttelte den Kopf. «Erzählen Sie mir das später, beim Bier.»
Bertolucci betrachtete Laura mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, gerade so als zweifele er an ihrem Verstand. Der Bahnsteig des S-Bahnhofs begann sich zu leeren, und Laura sah, dass auch Hans Zwicknagel zwei italienische Zugbedienstete um sich versammelt hatte. Den Schaffner Fabio Castelli und den Zugchef, einen Südtiroler namens Antonio Kofler. Beide kannte Laura von der ersten Befragung, beide hatten sich sehr bedeckt gehalten.
«Verrücktes Zusammentreffen», sagte Laura. «Ich wollte Sie am Bahnhof abholen, um Ihnen noch ein paar Fragen zu stellen. Dann kam diese Bombendrohung. Ich kann wirklich nichts dafür! Es tut mir Leid. Aber vielleicht sollten wir uns von diesem ungewöhnlichen Vorfall nicht beeindrucken lassen. Deshalb bin ich trotzdem hier!»
«Und was erwarten Sie?», fragte Kofler, ein großer Mann mit schwerem Körper und massigem Gesicht, dessen Haut von unzähligen geplatzten Äderchen überzogen war. Laura sah auf die Uhr.
«Eine Stunde Ihrer Zeit. Ich lade Sie alle zu einem Bier ein, falls Sie nicht bei Ihrem Zug bleiben müssen.»
«Na ja, begeistert bin ich nicht», sagte Kofler und sah seine Kollegen
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