Wie Krähen im Nebel
wusste selbst nicht, warum.
Doch wahrscheinlich war es ganz einfach. Ihr Leben hatte sie wieder in Besitz genommen, schleichend zunächst, dann mit hämischer Macht. Ein paar Wochen lang war es ihr gelungen, die Begegnung mit Angelo Guerrini außerhalb dieses Lebens zu bewahren – wie ein köstliches Geheimnis, etwas, das nur ihr gehörte und von dem außer ihrem Vater niemand etwas ahnte. Etwas, von dem sie hin und wieder einen Schluck trinken konnte, eine Art Lebenswasser. Aber plötzlich rückte dieses Lebenswasser näher, entwickelteQualitäten einer Flutwelle. Mehrmals schon hatte Angelo seinen Besuch in München angekündigt – vorsichtig zwar, aber doch deutlich. Er wollte sie sehen, noch ehe sie sich in Venedig treffen würden.
Es geht nicht, flüsterte Laura. Ich kann meinen Kindern unmöglich einen italienischen Liebhaber präsentieren. Sie können das noch nicht verkraften. Es ist völlig ausgeschlossen. Nächsten Sonntag ist der erste Advent, ich muss noch einen Adventskranz besorgen und ein paar Zweige für Vaters Wohnung. Ich habe noch keine Plätzchen gebacken, obwohl Sofia mich schon dreimal darum gebeten hat. Ich glaube, ich fange an, diese Rituale zu hassen, die uns ständig rund ums Jahr hetzen, und sie scheinen immer schneller wiederzukehren, immer schneller.
«Das war keine gute Entspannungsübung», sagte sie laut, schlug die Augen auf, massierte ihre rechte Schulter und ließ den Blick durch das kleine Zimmer wandern. Sie war eine der wenigen im Polizeipräsidium, die ihren persönlichen Raum gegen alle Neuerungen erfolgreich verteidigt hatten. Während die meisten Hauptkommissare inzwischen in Großraumbüros saßen, in denen ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, man nie unbeobachtet war, genoss Laura jede einzelne undurchsichtige Wand ihres Zimmers. Sie hatte absolut kein Bedürfnis danach, eine gläserne Kommissarin zu sein, die in ständigem Blickkontakt mit unzähligen Kollegen stand.
Zur Strafe musste sie ihre alten Möbel behalten, doch auch das machte ihr nichts aus. Ihr schwarzlederner Chefsessel war bequem, der Schreibtisch war groß und hatte viele Schubfächer. Die Lampe darauf stammte zwar nach Meinung ihres Vaters noch aus dem Dritten Reich, doch das war eine seiner altbekannten Übertreibungen. Der Computer dagegen war ziemlich neu, und Laura kam gut mit ihm zurecht.Kompliziertere Internet-Recherchen delegierte sie allerdings an Andreas Havel, weil sie nicht dessen begeisterte Hingabe an die Wunder der Elektronik besaß.
Laura stieß sich mit beiden Beinen vom Boden ab und rollte auf dem riesigen Ledersessel zu ihrem PC hinüber, der auf einem Tischchen an der Wand abgestellt war. Auf ihrem Schreibtisch duldete sie ihn nicht. Das war ihr entschieden zu nah.
Noch immer keine einzige E-Mail aus Italien, obwohl sie mindestens sieben verschiedene Dienststellen angeschrieben hatte. Jetzt gab es keine Ausrede mehr für Laura. Sie konnte Angelo in Ruhe anrufen – nichts drängte, niemand wollte etwas von ihr. Natürlich könnte sie die Zeit nutzen und schnell ein paar Weihnachtsgeschenke besorgen, den Adventskranz … Sie lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf über die eigene Feigheit. Dann nahm sie entschlossen das Telefon auf und wählte Angelos Dienstnummer in Siena.
Er meldete sich so schnell, dass sie sich erst fassen musste, seinem mehrmaligen «pronto» nachlauschte und es plötzlich ein bisschen seltsam fand, dass alle Italiener sich mit diesem knappen Wort meldeten, als würden sie «hier» rufen.
«Auch pronto!», sagte sie nach einer Weile.
«Bist du das, Laura?»
«Ja.»
«Hattest viel zu tun, nicht wahr? So viele Morde wie in den besten Zeiten New Yorks?»
«Mindestens.»
Er war verletzt. Sie hörte es in seiner Stimme, obwohl er sich Mühe gab, ironisch zu sein. Und er hatte ja Recht. Sie hätte ihn anrufen können, vom Handy, von einer Telefonzelle, vom Krankenhaus, von zu Hause, vom Büro. Aber sie konnte nicht, weil sie eben nicht konnte. Verletzen wollte sie ihn aber auch nicht.
«So, mindestens …», sagte er leise, lachte sogar ein bisschen.
Warum macht er mir keine Szene, dachte Laura. Wenn er mir eine Szene machen würde, dann könnte ich wenigstens wütend auf ihn sein. Aber sie wollte gar nicht wütend auf ihn sein.
«Nein», sagte sie. «Nur ein Mord im Nachtzug aus Rom. Aber es ist ein schwieriger Fall, und wir finden bisher einfach nichts. Deine Kollegen sind auch nicht besonders hilfreich.»
Guerrini antwortete nicht
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