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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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«Gute Besserung!» Sie verließ das Zimmer 201, schloss leise die Tür hinter sich und lehnte sich an die Wand, versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn man das Gedächtnis verlor. Vielleicht wie blind? Sie machte die Augen zu und tastete mit der rechten Hand über die Wand, atmete gleichzeitig sehr bewusst die Krankenhausgerüche ein.
    Was wäre, wenn sie nichts mehr wüsste außer diesen ganz konkreten Informationen, die sie über ihre Fingerkuppen und ihre Nase erhielt. Nein, es funktionierte nicht! Sie wusste einfach, dass Sofia und Luca existierten, ihr Vater, die Stadt da draußen, das ganze Land und hinter den Alpen und dem Apennin ein Mann, der ihr besonders wichtig war. Sie hatte auch Rosl Meier nicht vergessen und ihre tote Mutter und das Johannis-Café, Peter Baumann und den Mord im Eurocity. Sie wusste ihren Namen, kannte ihre Herkunft.
    Das alles war beinahe gleichzeitig da wie ein praller Nährboden, auf dem sie sich sicher bewegen konnte. Es gab nur einen Bruch in diesem Gefühl der Sicherheit, ihre eigene Sehnsucht nach Freiheit, diesen unbändigen Wunsch, der sie manchmal überkam, den Wunsch, all das zu vergessen und etwas Neues zu beginnen.
    «Ist Ihnen nicht gut?»
    Laura zuckte zusammen und öffnete langsam die Augen. Vor ihr stand ein grauhaariger Mann in weißem Kittel. Offensichtlich einer der Ärzte. Er war ein bisschen größer als sie, trug eine randlose Brille und blickte besorgt auf sie herab.
    «Nein, nein. Es ist alles in Ordnung», stammelte Laura.
    «Tatsächlich?» Er lächelte leicht und zog die Augenbrauen nach oben.
    «Ja, wirklich! Ich habe nur ein Experiment durchgeführt.»
    «Und welches, wenn ich so indiskret fragen darf?»
    «Ich habe versucht mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man sein Gedächtnis verloren hat.»
    «Ist es Ihnen gelungen?»
    «Nein.» Laura schüttelte den Kopf. «Wenn ich versuche, mich nicht zu erinnern, wer ich bin und was meine Vergangenheit ist, dann besteht da immer noch eine Art Bewusstsein, das mich hält. Ich weiß, obwohl ich nicht denke.»
    Der Arzt lachte.
    «Ihre Erkenntnis widerspricht einem der größten Philosophen, der erklärte: Ich denke, also bin ich!»
    «Zwischen Wissen und Sein besteht aber ein großer Unterschied, finden Sie nicht? Und für einen Menschen, der sein Gedächtnis verloren hat, müsste außerdem ein ganz anderer Satz gelten: Ich denke, obwohl ich nicht weiß!»
    «Haben Sie Philosophie studiert?»
    «Nein, aber ich denke gern», antwortete Laura. «Sind Sie Dr.   Libermann?»
    «Woher wissen Sie das?» Der Arzt sah sie erstaunt an.
    «Ich dachte es mir. Wissen Sie, ich bin bei der Kriminalpolizei, da lernt man solche Dinge.»
    «Machen Sie Scherz, oder sind Sie eine Patientin?» Libermann sah plötzlich sehr ernst aus.
    «Weder noch!» Laura hielt ihm ihren Ausweis hin. «Ich möchte mich mit Ihnen über den jungen Mann mit der globalen Amnesie unterhalten. Ich habe eine Menge Fragen an Sie, und die Oberschwester der Intensivstation sagte mir, dass Sie ein Experte auf diesem Gebiet seien.»
    Dr.   Libermann betrachtete noch immer Lauras Ausweis, lächelte dann und wies mit einer einladenden Bewegung seines rechten Arms auf das Ende des Flurs.
    «Kommen Sie mit ins Ärztezimmer. Ich erzähle Ihnen gern, was ich weiß.»
     
    Kurz darauf saß Laura dem Arzt gegenüber an einem runden Tisch, auf dem ein paar Fachzeitschriften lagen. Dr.   Libermann hatte zwei Plastikbecher mit Kaffee besorgt und schien sich sichtlich über den ungewöhnlichen Besuch zu freuen.
    «Natürlich hatte ich hin und wieder Kontakt mit Polizeibeamten – meistens, wenn jemand eins über die Rübe bekommenhat und danach Ausfallerscheinungen zeigte oder vorgab, sich an nichts zu erinnern. Aber ich hatte noch nie ein Gespräch mit einer Kriminalhauptkommissarin. Ein monströses Wort, finden Sie nicht?»
    «Doch», lächelte Laura. «Einfach Hauptkommissarin wäre kürzer und richtiger!»
    Libermann stutzte kurz, nickte dann und murmelte: «Wie dem auch sei   … womit kann ich Ihnen dienen!»
    «Mit Ihrer Einschätzung des unbekannten Patienten im Zimmer 201.» Laura nippte am Kaffee, er war noch zu heiß.
    Libermann wiegte den Kopf hin und her und rieb seine Handflächen aneinander. «Ein schwieriger Fall. Man hat mir die Hintergründe erzählt. Medizinisch stellen sich viele Fragen   … ich kenne unzählige Fälle globaler Amnesien oder Teilamnesien. Unser Gehirn mag es nun mal nicht, wenn man es zu sehr erschüttert.

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