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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Aber das ist Unsinn. Oder vielleicht nicht   … ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts!» Seine rechte Hand zerknüllte einen Zipfel der Bettdecke.
    «Gar nichts?», fragte Laura mit sanfter Stimme.
    «Gar nichts!», erwiderte er heftig. «Können Sie sich vorstellen, dass man gar nichts weiß? Niemanden kennt? Am wenigsten sich selbst? Ich weiß nicht, wer ich bin, Signora. Ich betaste mein Gesicht, betrachte mich im Spiegel. Ich sehe meine Füße, meine Hände. Ich esse und trinke, ich pinkle und scheiße – aber ich weiß nicht, wer das macht. Ich habe Angst, Signora! Nackte, kalte Angst.» Seine Stimme war immer lauter geworden, er sprach keuchend und doch sehr klar, beinahe druckreif, dachte Laura.
    Der andere Patient hatte die Augen geöffnet und starrte jetzt zu ihnen herüber.
    «Ja», sagte Laura nach einer Weile. «Ich kann mir vorstellen, dass es Angst macht. Deshalb würde ich Ihnen gern ein bisschen helfen, sich zu erinnern. Zumindest weiß ich, wie Sie hierher gekommen sind.»
    «In einem Zug aus Italien.» Seine Stimme klang spöttisch und zugleich verzweifelt. «Sämtliche Ärzte haben bereits an meinem Bett gesessen und mir immer wieder erzählt, dass ich in einem Zug aus Italien nach München gekommen bin. Aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Der Name Italien verbindet sich mit nichts, und was ist München? Können Sie mir erklären, was München ist?»
    Laura beobachtete den jungen Mann. Immer wieder strich er mit gespreizten Fingern sein blondes Haar zurück – Haar, das deutlich gefärbt war und an den Wurzeln dunkel nachwuchs. Seine Bewegungen waren nervös und eckig. Auf seiner Stirn zeigte sich ein feuchter Schimmer, und auf seiner Oberlippe standen winzige Tröpfchen. Die dichten Augenbrauen und Wimpern waren beinahe schwarz, doch seine Augen leuchteten blaugrün, wie die einer Katze. Etwas Merkwürdiges war um diese Augen, sie schienen nicht wirklich nach außen zu schauen, als hielte etwas sie zurück.
    Laura fragte sich, ob jemand, der an globaler Amnesie litt, derart klar sprechen konnte wie dieser junge Mann. Sie beschloss, einen Versuch zu unternehmen.
    «Es war ein Eurocity», sagte sie langsam. «Er kam aus Rom, hielt in Florenz und Bologna, in Verona und Trient, in Bozen und Innsbruck und in vielen anderen kleinen Städten. Sie haben in der ersten Klasse gesessen und die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt. Der Schaffner hatte etwas dagegen und forderte Sie auf, eine Zeitung unterzulegen. Der Schaffner bat Sie außerdem um ein Autogramm für seine Tochter, weil er Sie für einen Schauspieler hielt. Sind Sie ein Schauspieler?»
    Der junge Mann warf ihr einen entsetzten Blick zu.
    «Sie haben kein Recht, so zu reden», stieß er hervor. «Sie können nicht einfach behaupten, dass ich das bin, von dem Sie sprechen. Das ist eine Verschwörung. Sie wollen mich verrückt machen!»
    «Nein.» Laura schüttelte den Kopf. «Ich will Sie nicht verrückt machen. Aber vielleicht geht es nicht, dass andere Ihnen von Ihrem Leben erzählen. Vielleicht müssen Sie sich ganz allein zurücktasten   … Schritt für Schritt.»
    Er schloss die Augen und presste die Hände gegen seine Schläfen.
    «Ich sehe nachts Bilder», flüsterte er heiser. «Wie Träume. Aber ich kann sie nicht fassen. Ich weiß, dass ich lebe – aber ich existiere nicht. Verstehen Sie, was ich meine? Ich kann verschiedene Sprachen sprechen   … es ist ganz leicht. Aber ich weiß nicht, warum ich das kann. Es macht Angst! Nichts als Angst!»
    Laura schaute aus dem Fenster auf die milchigen Lichter, die wie übergroße Augen durch den Nebel zu ihnen hereinstarrten.
    «Ja», sagte sie. «Ich kann es mir zumindest vorstellen.»
    Der junge Mann antwortete nicht, lag mit geschlossenen Augen in seinen Kissen, eine steile Falte zwischen den Brauen, als litte er Schmerzen.
    «Ich gehe jetzt», murmelte Laura. «Aber ich komme wieder. Falls Sie damit einverstanden sind.»
    Er gab nicht zu erkennen, ob er ihre letzten Worte gehört hatte. Sein Gesicht wirkte plötzlich eingefallen und krank. Er drehte sich zum Fenster und zog die Decke über den Kopf.
    Als Laura sich zur Tür wandte, bemerkte sie den Blick des anderen Patienten.
    «Spricht er mit Ihnen?», fragte sie leise auf Deutsch.
    Der Mann schüttelte sehr langsam seinen Kopf, als fürchte er zu schnelle Bewegungen.
    «Er schaut mich nicht mal an», sagte er. «Starrt den ganzen Tag aus dem Fenster. Ist er Italiener?»
    «Ich weiß es nicht», antwortete Laura.

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