Wie Krähen im Nebel
Es reagiert mit Blutungen, Bewusstlosigkeit, Schmerzen, Blackouts, Migräneanfällen oder Amnesien. Je nach Empfindlichkeit und Heftigkeit der Erschütterung.» Libermann lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schaute über seine Brillengläser hinweg auf Laura, dann nickte er wieder, räusperte sich und fuhr fort: «Der besagte junge Mann – ich schätze ihn auf fünfundzwanzig Jahre, plus, minus – wurde vor einer Woche ohne Bewusstsein aufgefunden, lag drei Tage in einer Art Koma, erwachte und konnte eigentlich vom ersten Augenblick an seine Situation ziemlich genau beschreiben. Richtig verwirrt wirkte er nur ganz kurze Zeit. Er konnte sagen, dass er unfähig sei, sich an irgendetwas zu erinnern, dass er seinen Namen nicht kennt, dass er nicht weiß, woher er kommt, und so weiter und so weiter.»
Laura hörte genau zu, trotzdem dachte sie gleichzeitig, dass Libermann sie an den alten Hausarzt ihrer Kindheit erinnerte, der ebenfalls lange Diagnosen stellte und am Ende «und so weiter und so weiter» hinzufügte.
«Ist das so ungewöhnlich?», fragte sie.
Libermann trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und nickte wieder. «Scheußliches Zeug, nicht wahr?» Er starrte den Plastikbecher grimmig an. «Ja, es ist ungewöhnlich! Es passt eigentlich überhaupt nicht zum Krankheitsbild einer globalen Amnesie. Diese Menschen, müssen Sie wissen, verlieren mit ihrem Erinnerungsvermögen meist auch die Fähigkeit zu kommunizieren, sich auszudrücken, manchmal sogar zu essen oder zu trinken, auf die Toilette zu gehen und so weiter und so weiter!»
Laura unterdrückte ein Lächeln.
«Und wie lange hält so ein Zustand an?»
«Also, ich habe nur zwei Fälle erlebt, in denen die Amnesie über längere Zeit angehalten hat. Es handelte sich aber um besonders schwere Fälle von Gehirnquetschungen. Alle anderen Amnesien bilden sich normalerweise innerhalb von Tagen oder maximal Wochen zurück. Auch die Fähigkeit zu sprechen und klare Sätze zu bilden – all das kehrt gemeinsam mit der Erinnerung zurück. Es ist wunderbar zu beobachten, wie ein Mensch sich selbst wieder findet, seine Identität, sein ganzes Leben.»
Diesmal sagte Libermann nicht «und so weiter», obwohl Laura darauf wartete.
«Und was genau ist bei dem jungen Mann anders?»
Der Arzt schaute intensiv zur Decke, als könnte er dort die Antwort ablesen.
«Ich will versuchen, es zu beschreiben: Er kann sich offensichtlich an nichts erinnern, verrät sich auch nicht durch ein Wort oder einen Halbsatz, falls er nur so tut. Ich nehme also an, dass er sich tatsächlich nicht erinnern kann. Aber – und nun kommen wir zu dem Ungewöhnlichen dieses Falles – er drückt sich ansonsten sehr gewählt aus, nimmt Nahrung zu sich, trinkt, geht normal zur Toilette. Er sagt, dass er Angsthat oder wenn ihm etwas wehtut und so weiter und so weiter. Das –» Libermann sprach das «Das» aus wie ein Ausrufezeichen – «ist nicht mit einer Amnesie in Verbindung zu bringen. Es sei denn –» wieder machte er eine bedeutungsvolle Pause –, «er leidet an einer psychogenen Amnesie, deren Auslöser die schwere Gehirnerschütterung war, an der er noch immer leidet. Er hatte übrigens keinen Schädelbasisbruch, wie zu Beginn befürchtet. Ein unscharfes Röntgenbild hat zu diesem Irrtum geführt!»
«Sie lehren an der Universität, nicht wahr?», fragte Laura.
Libermann lächelte kurz. «Sagen Sie nicht, dass Sie es an meinem dozierenden Ton bemerkt haben. Das wirft mir meine Frau dauernd vor!»
«Es stört mich überhaupt nicht», erwiderte Laura. «Ich finde es nur lustig!»
«Lustig?» Libermann sah irritiert aus.
«Ja, lustig. Sie sprechen, wie man sich eben einen Professor vorstellt. Sehr klar, sehr betont und so, als würden Sie bestimmte Sätze rot unterstreichen, damit Ihre Studenten wissen: Das ist wichtig.»
Der Arzt nahm den Kaffeebecher in beide Hände und drehte ihn langsam.
«Beobachten Sie andere immer so genau?», fragte er nach einer Weile.
«Ja, wenn die andern mich interessieren oder wenn ich an der Aufklärung eines Verbrechens arbeite, dann versuche ich sehr genau zu beobachten.»
«Sagen Sie den andern auch immer, was Sie sehen?»
«Nein», lächelte Laura, «nur denen, die etwas davon haben, wenn ich es ihnen sage. Ich finde zum Beispiel, dass Sie ein sehr guter Professor sind, und ich höre Ihnen gern zu, weil ich verstehe, was Sie mir erklären.»
Libermann lächelte jetzt ebenfalls. «Danke», murmelte er.«Ich
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