Wie Krähen im Nebel
Mühe zu geben!», brummte Guerrini. «Hier kennt sich sowieso niemand aus, und schon gar nicht bei Nacht und Nebel!»
«Sicher ist sicher!», knurrte Flavio verbissen. «Sehen Sie – wenn man unsere Arbeit macht, traut man niemandem mehr. Für mich ist es eine totale Niederlage, dass wir die Frauen nicht schützen konnten. Und es macht mir Angst, es ist wie ein Horrorfilm! Etwas, das eigentlich nicht wahr sein kann! Wir organisieren eine sichere Ausreise, und dann kommt so was wie ein Werwolf und schmeißt eine Frau aus dem Zug, erschießt eine andere … es waren unsere Frauen. Frauen, die wir auf den Weg gebracht hatten! Ich begreife es einfach nicht!»
«Es war sicher kein Werwolf!», erwiderte Laura leise.
«Ich weiß! Aber ich kann Ihnen sagen, dass mir ein Werwolf beinahe lieber wäre als diese hinterhältigen Schweine!»Flavio bremste scharf, fluchte leise, als der Wagen ein paar Meter dahinschlitterte. Sie hatten inzwischen den nördlichen Rand des Florentiner Industriegürtels erreicht, eine Gegend, in der zwischen Produktionshallen die ersten heruntergekommenen Wohnhäuser standen. Erst nachdem sich Flavio überzeugt hatte, dass kein anderer Wagen in der Nähe war, bog er über einen matschigen Weg in einen Hinterhof ein und hielt endlich an.
«Wir müssen noch ein Stück zu Fuß gehen!», sagte er und stand schon ungeduldig neben dem Fahrzeug, sich noch immer nervös umschauend.
«Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass uns jemand gefolgt sein könnte!», murmelte Guerrini beruhigend.
Flavio antwortete nicht, schloss den Wagen ab und ging vor ihnen her. Vor den Hauseingängen brannten schwache Lampen, deren Licht kaum den Nebel durchdringen konnte. Sie folgten einem schmalen Weg, der an alten Schuppen vorbeiführte, an einer Gruppe von Zypressen, die alle Nadeln verloren hatten und wie borstige Gerippe dastanden. Laura fröstelte, war froh, dass Guerrini neben ihr ging.
Auf glitschigen Brettern überquerten sie einen Bach. Guerrini ging vor und reichte Laura die Hand, um ihr hinüberzuhelfen. Sie tat so, als hätte sie den Halt verloren, prallte gegen ihn und war froh, ihn zu spüren. Für ein paar Sekunden waren Menschenhändler, Serienmörder und der ganze Rest ihr völlig egal. Doch als Guerrini sie sanft weiterschob, weil Flavio vor einem zweistöckigen Haus stehen geblieben war und ihnen winkte, da war Laura den Menschenhändlern fast ein bisschen dankbar, denn ohne sie würde sie jetzt in ihrem Bett in München liegen – ohne Angelo. Und ehe sie Flavio erreichten, dachte sie, dass es nicht nur edle Motive waren, die sie Hauptkommissarin werden ließen. Mit Mitte vierzig nahm die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber zu.Mindestens die Hälfte ihrer Motivation bestand aus schierer Abenteuerlust!
Zufrieden mit diesem Ergebnis, betrat sie hinter Flavio ein kaltes Treppenhaus, in dem es nach Katzenurin roch. Im ersten Stock klopfte er einen kurzen Rhythmus an eine Tür, wiederholte ihn nach einer Minute. Als die Tür sich einen Spaltbreit öffnete, murmelte er etwas, das Laura nicht verstand. Dann machte er eine einladende Kopfbewegung, und die Tür schwang ganz auf.
Die Räume hinter der Tür glichen dem Rücksitz von Flavios Wagen. Überall lagen Decken und Kleidungstücke herum, dazwischen Zeitungen, Bücher, Teller mit Essensresten. Es gab kaum Möbel – außer einem Campingtisch und ein paar Klappstühlen. Geschlafen wurde auf Matratzen am Boden. In der improvisierten Küche stand ein Gaskocher mit zwei Flammen, in einem Regal ein paar Töpfe und Pfannen. Es roch nach Knoblauch, Parfüm und wieder nach Katzenpisse. Mitten in diesem Chaos standen zwei junge Frauen, lehnten nebeneinander an der Wand und schauten mit gesenkten Köpfen auf den Boden, warfen nur hin und wieder einen kurzen misstrauischen Blick auf die Besucher.
Flavio stellte die Frauen als Clara und Anita vor, fügte hinzu, dass es sich natürlich um Decknamen handle – Transfer-Namen. Dann erbot er sich, Kaffee zu machen, und holte die Klappstühle.
«Setzt euch und redet!», sagte er, und es klang wie ein Befehl.
Zum ersten Mal konnte Laura den Aktivisten genauer betrachten, obwohl auch in dieser verlotterten Wohnung die Beleuchtung eher schummrig war. Flavio war jünger, als sie geschätzt hatte. Höchstens Anfang Dreißig. Vermutlich nicht älter als Baumann. Sein Haar war tatsächlich rot, hing etwas verstrubbelt bis in seinen Nacken, seine Haut war hellund voller Sommersprossen. Ein beinahe blonder
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