Wie man die richtige Arbeit für sich findet
Spezialist auf einem bestimmten Gebiet werden, was letztlich auf einen einzigen Beruf hinausläuft, oder möchte man sich als Generalist mit den eigenen Talenten und Passionen auf den verschiedensten Gebieten betätigen? Sollen wir uns also, kurz gesagt, auf Leistungen »in der Spitze« oder auf Betätigung »in der Breite« hin orientieren?
Seit über einem Jahrhundert bekommen wir im Westen zu hören, den besten Gebrauch von unseren Talenten machten wir, wenn wir uns immer weiter spezialisieren und Experten auf einem Gebiet werden, etwa wie Wayne Davies. Diese Ideologie des Erfolg verheißenden Spezialistentums beruht im Wesentlichen auf der Arbeitsteilung, die sich während der industriellen Revolution herausbildete und bei der die meisten Tätigkeiten in immer kleinere Arbeitsschritte zerlegt wurden, um die Effizienz und die Produktivität zu steigern. Die meisten Menschen arbeiten daher heute auf einem eng begrenzten Gebiet, als Spezialist für Unternehmensbesteuerung zum Beispiel oder Auskunftsbibliothekarin oder als Anästhesist. Spezialisierung mag eine gute Sache sein, wenn die Betreffenden über die in ihren Jobs erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn sie eine Leidenschaft für die Nischen eines Fachs hegen; auch der Stolz, als Experte auf einem Gebiet zu gelten, ist natürlich ein Gewinn. Nicht minder groß ist allerdings die Gefahr der Unzufriedenheit, die sich durch das Repetitive bestimmter hochspezialisierter Verrichtungen einschleichen kann. So haben etwa Umfragen unter Chirurgen ergeben, dass Ärzte, die nur Mandel- oder nur Blinddarmoperationen durchführen, sich ziemlich bald langweilen und trotz ihrer lukrativen Jobs unglücklich werden.
Hinzu kommt, dass unsere Kultur der Spezialisierung dem zuwiderläuft, was die meisten von uns intuitiv wissen, in der Berufsberatung bisher aber erst ansatzweise verstanden wird: Wir alle haben mannigfaltige Ichs. Herminia Ibarra, die wissenschaftliche Pionierarbeit auf dem Gebiet der beruflichen Neuorientierung geleistet hat, schreibt dazu:
Unsere Arbeitsidentität ist kein verborgener Schatz, der darauf wartet, aus dem Innersten unseres Seins gehoben zu werden – sie besteht im Gegenteil aus vielen Entwicklungsmöglichkeiten … als Ich sind wir viele. 36
In der Oberstufe Englisch zu unterrichten zum Beispiel muss nicht die einzige befriedigende Aufgabe sein. Mit den vielfältigen Erfahrungen, die wir auf den verschiedensten Gebieten haben, mit unseren Interessen und Talenten, mit den Werten, die wir vertreten, können wir auch als Webdesigner oder als Polizist oder als Betreiber eines Bio-Cafés Erfüllung finden.
Das ist ein befreiender Gedanke mit weitreichenden Konsequenzen. Er lässt es nämlich möglich erscheinen, beruf-liche Erfüllung auch dann zu finden, wenn wir die Fesseln der Spezialisierung abstreifen und beruflich »in die Breite« gehen. Dadurch können wir die vielen Seiten unseres Ichs entwickeln und zu voller Entfaltung bringen. Dieses Ziel lässt sich auf klassischen Wegen erreichen: Man kann »Generalist« werden und mehrere Berufe gleichzeitig ausüben oder aber als »Serienspezialist« verschiedene berufliche Stationen nacheinander durchlaufen.
Die erste Variante orientiert sich an der Renaissance und ihrem Ideal der vollen Entfaltung unseres Menschseins durch die Ausbildung unserer individuellen Begabungen und die Förderung aller Facetten unserer Persönlichkeit. Der größte Renaissance-Generalist von allen war sicher Leonardo da Vinci. Er war nicht nur Maler, sondern auch Ingenieur, Erfinder, Naturwissenschaftler, Philosoph und Musiker. Wer einmal einen Blick in Leonardos Notizbücher wirft, findet dort Notizen zu einer unglaublichen thematischen Bandbreite: anatomische Skizzen von Pferden, Pläne für Flugapparate, Untersuchungen menschlicher Föten, astronomische Beobachtungen, Entwürfe für Theaterkostüme und Fossilienstudien, um nur einige zu nennen. Von dem britischen Kunsthistoriker Kenneth Clark stammt die Bemerkung, Leonardo sei ein »Mensch mit einer so unerschöpflichen Neugier gewesen, wie es in der Geschichte keinen zweiten gab«. Für Leonardos Arbeitsalltag konnte das bedeuten, dass er in ein und derselben Woche ein Kriegsgerät für einen machthungrigen Herzog konstruierte, an dem Porträt eines Kunstmäzens malte und nebenbei noch die Wolkenbewegungen beobachtete. Einen beruflich breiter »aufgestellten« Menschen hat es in der bisherigen Geschichte wohl kaum gegeben.
Leonardos Vitruvianischer
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