Wie man einen verdammt guten Roman schreibt
»He, Kevin, alter Knabe, was hältst du davon, wenn wir uns heute abend nach dem Büro zusammen im Heu wälzen?« Es übersteigt sogar ihre Kräfte, überhaupt mit ihm zu reden, wenn es nicht um geschäftliche Dinge geht, und selbst dann noch wird sie rot und spricht stockend und stotternd.
Nehmen wir an, Sie haben Ellen in Anlehnung an eine »wirkliche« Person entworfen, die Sie aus Ihrem Büro kennen. Sie heißt Sue Ellen. Sue Ellen hat mit dem »wirklichen« Kevin 22 Jahre zusammengearbeitet, und jeden Tag dieser 22 Jahre hat sie sich nach ihm verzehrt, ohne je ein Wort zu sagen oder gar einen Annäherungsversuch zu machen. So ist das wirkliche Leben. Seltsamer als ein Roman, wie man so sagt. Aber es passiert nichts; kein Drama, keine Handlung. Der Leser wartet ungeduldig, daß etwas geschieht. Eine Geschichte ist zielorientiert; sie schreitet voran, entwickelt sich. Homo fictus agiert immer auf dem Niveau seiner Maximalkapazität, und es entspricht nicht der maximalen Kapazität einer dramatischen Figur, nichts zu tun, wenn sie mit einem Problem oder einer Herausforderung konfrontiert wird, es sei denn, der Mangel an Initiative wird komödiantisch genutzt.
Es ist wahr, eine schüchterne Figur hat eine begrenzte Auswahl von Handlungsmöglichkeiten. Normalerweise ist sie nicht in der Lage, irgend etwas Offenkundiges zu unternehmen. Aber auch so gibt es zahllose Alternativen für sie. Sie, der Geschichtenerzähler, müssen unter allen Handlungsmöglichkeiten diejenige aussuchen, die sie im Rahmen ihrer Maximalkapazität unternehmen könnte.
Sie setzen sich also an Ihren Schreibtisch und stellen eine möglichst umfassende Liste all der Sachen auf, die Ihre Figur tun könnte. Hier sind ein paar Möglichkeiten.
• Sie könnte Kevin eine Nachricht zukommen lassen und ihm alles erzählen.
• Sie könnte eine Freundin den Boten spielen lassen.
• Sie könnte Kevin anrufen und ihre Stimme verstellen.
• Sie könnte an einem Seminar zur Stärkung des Selbstvertrauens teilnehmen.
• Sie könnte eine Charme-Schule besuchen.
• Sie könnte herauskriegen, wo Kevins Stammkneipe liegt, und dann verkleidet dort auftauchen.
• Sie könnte herauskriegen, welche Kirche er besucht, und Mitglied des Kirchenchors werden, um in seiner Nähe zu sein.
• Was wäre, wenn sie seine Frau kennenlernte und sich mit ihr anfreundete?
• Sie könnte sich auf einer Party Mut antrinken und sich zum Narren machen.
• Sie könnte im Büro die Sache so hinbiegen, daß sie seine Sekretärin wird.
• Während sie in der Kantine an ihm vorbeigeht, könnte sie vor lauter Aufregung ihren Kaffee auf seine neue Krawatte schütten.
Diese Liste ist nicht erschöpfend. Sie sollten Listen wie diese immer dann aufstellen, wenn eine Figur vor einem neuen Dilemma steht. Wenn die Figur Todesängste aussteht, umso besser.
Die maximale Kapazität sollte immer ausgereizt, aber nie überreizt werden. In jeder Situation sollten Sie sich fragen, ob die fragliche Handlung den »Würde er wirklich«-Test bestehen würde. Angenommen, Sie haben Wilfred Frumpet als freundlichen Buchhändler charakterisiert. Er trägt eine Brille, ist Mitte fünfzig, zurückhaltend, gelehrt. Sie verwickeln ihn in einen kleinen Verkehrsunfall. Der Fahrer des anderen Wagens ist ein finsterer Ausländer, der nach Knoblauch riecht, Wilfred anrempelt und ihm die Brille von der Nase schlägt. Sie sind nicht sicher, wie Wilfred in dieser Situation reagiert. Sie lesen sich noch einmal seine Biographie durch und erwägen verschiedene Möglichkeiten. Sie wollen, daß er energisch und entschlossen auftritt, also müssen Sie ihn zum Kofferraum seines Wagens gehen, einen schweren Schraubenschlüssel rausholen und den anderen Fahrer totschlagen lassen.
Was ist daran falsch, fragen Sie. Es beweist Willensstärke und Entschlossenheit und enthüllt einen neuen Aspekt seines Charakters. Das Problem ist, daß solch eine Handlung beim »Würde er wirklich«-Test durchfallen würde. Eine derart gewalttätige Reaktion wäre angemessen nur in einem absurden oder satirischen Stück, in dem man nicht erwartet, realistisch gezeichnete Figuren zu sehen. Nichts läßt ein Buch schneller im Mülleimer verschwinden als eine Figur, die den Leser veranlaßt zu sagen: »Wilfred Frumpet würde so etwas nie tun - jedenfalls nicht der Wilfred Frumpet, den ich kenne.«
Das soll nicht heißen, daß eine Figur wie Wilfred Frumpet nicht zu einer solchen Tat
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