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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bayard
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versucht, Ritas Lieblingslektürekennenzulernen, um so tief wie möglich in ihre innere Welt einzudringen, versucht er die Illusion zu erwecken, dass ihre inneren Bücher identisch seien. Und vielleicht müsste eine ideale, geteilte Liebe tatsächlich Einblick gewähren in die allergeheimsten Texte, aus denen der andere gemacht ist.
    Doch nur eine unendliche Ausdehnung der Zeit könnte es zwei Menschen erlauben, ihre inneren Bücher, das heißt ihre verborgenen Welten in Übereinstimmung zu bringen, bestehen diese doch aus Fragmenten von Bildern und Gesprächen, die nicht miteinander vergleichbar sind. In Phils Universum, in der sich die Zeit auf der Stelle bewegt, ist die Sprache nicht mehr dieser ununterbrochene, unumkehrbare Fluss, und es wird, wie im Toast auf das Murmeltier, möglich, bei jedem Satz stehen zu bleiben, um seinen Anlass und seine Absicht zu erfassen, indem man ihn mit der Biografie und dem Innenleben des anderen in Verbindung bringt.
    Einzig dieses künstliche Anhalten der Zeit und der Sprache könnte es möglich machen, sich den in uns schlummernden Texten anzunähern, während sie im gewöhnlichen Leben einem unabwendbaren und unaufhörlichen Umformungsprozess unterworfen sind, der jede Hoffnung auf Übereinstimmung zum Scheitern bringt. Denn auch wenn unsere inneren Bücher, unseren Wunschphantasien entsprechend, relativ festgefügt sind, so verändern sich die Deckbücher, über die wir reden, wie wir sehen werden, unaufhörlich weiter, und es ist eine müßige Hoffnung zu denken, wir könnten dieser ständigen Umwandlung Einhalt gebieten.
    Die Wunschvorstellung vollständiger Übereinstimmung kann also nur verwirklicht werden, wenn man Zuflucht zumFantastischen nimmt. Die meiste Zeit jedoch müssen sich unsere Gespräche über Bücher leider mit Fragmenten begnügen, die die Form unserer persönlichen Wunschphantasien annehmen und also von etwas ganz anderem handeln als von den Büchern, die Schriftsteller geschrieben haben, welche sich oft ohnehin nicht in dem wiederfinden würden, was ihre Leser über sie sagen.
    ∗
    Abgesehen von der Komik mancher Situationen liegt etwas Erschreckendes in der Art, wie Phil es anstellt, Rita zu verführen, weil es bedeutet, alles Unentschiedene aus Sprache und Kommunikation zu beseitigen. Dem anderen immer nur die Worte zu sagen, die er hören möchte, genau der zu sein, den er erwartet, bedeutet paradoxerweise, ihn als Anderen zu verleugnen, da man ihm gegenüber aufhört, ein – zerbrechliches und unsicheres – Subjekt zu sein.
    Da es in Filmen, wenn schon nicht im Leben, eine Moral gibt, erreicht Phil sein Ziel aber nicht, indem er Macht über Rita gewinnt, sondern indem er selbst loslässt. Die allmähliche Annäherung an ein Gespräch, wie es der andere erwartet, bringt Phil zwar den ersten Kuss von Rita ein, doch sie reicht nicht aus, das Mädchen zu erobern und vor allem, die Zeit wieder in Gang zu bringen. Phil wacht noch immer am selben Tag auf, mag er mit seiner Geliebten noch so viele Fortschritte machen.
    Doch während die Zeit nicht vergeht und die Geschehnisse sich identisch wiederholen, verändert sich Phil und verliert allmählich seine Arroganz gegenüber seinen Mitmenschen. Er beginnt sich für sie zu interessieren, sie nach ihremLeben zu befragen, ihnen nützlich zu sein. Die Tage wiederholen sich noch immer, doch stehen sie fortan im Zeichen der Nächstenliebe, da Phil nun seine persönliche Optimierungsmethode zu guten Zwecken einsetzt, zum Beispiel, indem er rechtzeitig erscheint, um einen alten Mann auf der Straße vor dem Erfrieren zu bewahren oder einen Jungen aufzufangen, der von einem Baum fällt.
    Indem er sich für die anderen interessiert, wird er selbst interessant, und durch seine Freundlichkeit gelingt es ihm, Rita innerhalb eines einzigen Tages zu verführen. Und eines Morgens, nachdem er neben Rita im Zimmer eingeschlafen ist, in dem er sich jeden Morgen wiederfindet, ohne in der Zeit voranzuschreiten, liegt beim Aufwachen zu seiner Überraschung die junge Frau neben ihm, und aus seinem Radiowecker erklingt zum ersten Mal eine andere Musik. Es ist ihm also gelungen, eine Grenze zu überschreiten, die unüberbrückbare der Zeit, die einen Tag vom nächsten trennt.
     
     
     
       1
Und täglich grüßt das Murmeltier (Groundhog Day)
von Harold Ramis (USA, 1993), mit Bill Murray und Andie MacDowell
       2 VB ++

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Erstes Kapitel
SICH NICHT SCHÄMEN
    in dem wir in einem Roman von David Lodge die

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