Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Bestätigung dafür finden, dass die Grundvoraussetzung für ein Gespräch über nicht gelesene Bücher ist, sich nicht dafür zu schämen
N ACHDEM WIR DIE VERSCHIEDENEN Formen des Nichtlesens und einige der Gesprächssituationen untersucht haben, in die wir geraten können, ist es nun an der Zeit, sich der Frage zuzuwenden, die meinem Buch seine Existenzberechtigung gibt, nämlich der Frage nach den möglichen Mitteln, mit denen man sich möglichst elegant aus der Affäre ziehen kann. Manche dieser Möglichkeiten sind bereits in früheren Kapiteln kurz angesprochen worden oder gehen logisch aus meinen Bemerkungen hervor, doch sollten wir uns jetzt ihre grundlegenden Strukturen etwas genauer ansehen.
Wie wir gesehen haben, hat das Sprechen über ein Buch wenig mit seiner Lektüre zu tun. Die beiden Tätigkeiten sind völlig unabhängig voneinander, und ich für meinen Teil rede, seit ich praktisch zu lesen aufgehört habe, nur um so länger und besser über die Bücher, da mir diese Abstinenz die nötige Distanz – Musils »Überblick« – dazu verschafft. Der Unterschied liegt darin begründet, dass beim Reden oder Schreiben über ein Buch etwas Drittes ins Spiel kommt, mag dieses anwesend oder abwesend sein. Die Existenz dieses Drittenwirkt sich spürbar auf die Tätigkeit des Lesens aus, weil damit ein Hauptakteur ins Spiel kommt, der den Prozess strukturiert.
Damit ist eigentlich schon alles darüber gesagt – was ich auch im vorangehenden Teil anhand einiger konkreter Situationen zu zeigen versuchte –, wie sehr die Gespräche über Bücher einer intersubjektiven Beziehung, das heißt einem psychischen Kräfteverhältnis unterliegen, in dem die Beziehung zum anderen, wie auch immer sie beschaffen sein mag, der Beziehung zum Text, der natürlich nicht unbeschadet bleiben kann, den Rang abläuft.
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Von allen Berufen, in denen man regelmäßig mit der Verpflichtung konfrontiert wird, nicht gelesene Bücher zu kommentieren, ist der des Lehrenden mit Sicherheit am stärksten exponiert. Tatsächlich sehen sich die meisten von uns gezwungen, Bücher zu besprechen, die zu lesen ihnen die Zeit oder ganz einfach die Lust fehlte, und sind so ständig der Gefahr ausgesetzt, sich mit dem Autor selbst oder gar mit anderen Spezialisten, die nicht so leicht zu täuschen sind, unterhalten zu müssen.
Als einer, der selbst Hochschullehrer und also mit den Gepflogenheiten des Metiers bestens vertraut ist, hat sich der englische Romancier David Lodge in seinem Werk mindestens zweimal mit dem Problem der richtigen Haltung gegenüber ungelesenen Bücher auseinandergesetzt. Beide Beispiele stammen aus Romanen –
Ortswechsel
[ 1 ] und
Schnitzeljagd
[ 2 ] –, diedas akademische und Gefühlsleben innerhalb des universitären Mikrokosmos beschreiben, Romane, die ein eigenes literarisches Genre begründet haben, den Campusroman.
Das erste Beispiel, von dem
Schnitzeljagd
erzählt, handelt von einem Dialog, der alles andere als banal ist. Robin Dempsey, ein Angehöriger dieses Mikrokosmos, diskutiert mehrere Kapitel lang mit einem geliehenen Computer, der so perfekt programmiert ist, dass er in der Lage ist, ein normales Gespräch zu führen. Sodass die Maschine, die auf den Namen ELIZA hört und also weiblichen Geschlechts ist, nach und nach zu seiner wichtigsten Vertrauten geworden ist.
Da er endlich jemanden gefunden hat, dem er unter absolut garantierter Diskretion sein Herz ausschütten kann, vertraut Dempsey ELIZA den ganzen Zorn und die ganze Verachtung an, die einer seiner Kollegen, Philip Swallow, in ihm ausgelöst hat:
» R.D.: ICH FÜHLE MICH NICHT BESSER .
ELIZA: WARUM NICHT ?
R.D.: DIESE SACHE MIT PHILIP SWALLOW .
ELIZA: ERZÄHLEN SIE MIR VON PHILIP SWALLOW .
R.D.: DAS HABE ICH DOCH SCHON GETAN .
ELIZA: MÖCHTEN SIE IHREN BEMERKUNGEN NOCH ETWAS HINZUFÜGEN ?
R.D.: SWALLOW IST FÜR MICH DIE VERKÖRPERTE UNGERECHTIGKEIT DES LEBENS. IN RU MMIDGE HAT ER DEN DOZENTENPOSTEN BEKOMMEN, DEN ICH EIGENTLICH HÄTTE HABEN SOLLEN, UND DANN HAT ER DURCH PUREN DUSEL DEN LEHRSTUHL ERGATTERT,UND JETZT HAT ER EINEN BOMBENERFOLG MIT DIESEM JÄMMERLICHEN BUCH ÜBER HAZLITT .«[ 3 ]
Jeder, der sich in seiner Karriere schon einmal als Opfer ungerechter Behandlung gefühlt hat, wird Dempseys Zorn verstehen. Und noch mehr wird er sich in den folgenden Zeilen wiedererkennen:
» ELIZA: ERZÄHLEN SIE MIR VON HAZLITT .
R.D.: HAZLITT INTERESSIERT MICH NICHT. ICH HABE SWALLOWS SCHEISSBUCH GAR NICHT GELESEN, DAS WAR AUCH GAR NICHT
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