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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Zimmer, Honor und Cece gingen in die Küche, und John und Regis blieben allein auf der Veranda zurück. Der Wind, der in den frühen Abendstunden auffrischte, zerzauste ihr Haar. Er sah, dass sie den zarten Knochenbau ihrer Mutter geerbt hatte, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ihm wurde das Herz schwer. Sie war erwachsen geworden in der Zeit, als er weg gewesen war. Auch das hatte er versäumt.
    »Alles in Ordnung, Dad?«
    »Es geht mir gut.«
    »Woran denkst du?«
    »Ich habe mich gefragt … wo die Zeit geblieben ist.«
    Sie nickte, als wüsste sie, was er meinte. Doch sie konnte nicht nachempfinden, was es bedeutete, ein Kind zu haben, es von Anfang an aufwachsen zu sehen: als Säugling, wenn man auf jeden Laut aus dem Kinderzimmer achtete, die ersten Schritte, die ersten Worte; wie sie dem weißen kleinen Kätzchen einen Namen gegeben hatte, die Eltern zum Lachen brachte; oder der erste Schultag, und wie sie einen Adventskranz mit dem Abdruck ihrer kleinen Hände gebastelt hatte, die sie in grüne Fingerfarbe getaucht und dann auf weißen Stoff gedrückt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es war, zuzuschauen, wie sie Muscheln und Kiefernzapfen sammelte, auf die höchsten Bäume kletterte, die Jungen im Wettrennen schlug, ihn anflehte, sie auf die steilsten Klippen mitzunehmen – und dann sechs Jahre ihres Lebens zu versäumen.
    Sisela spazierte durch die Hintertür auf die Veranda. Sie reckte sich, blickte John an, sprang auf seinen Schoß, rollte sich zusammen und legte sich hin. Er streichelte ihren Rücken, und sie begann zu schnurren.
    »Erinnerst du dich, wie wir sie gefunden haben?«, fragte Regis.
    »Und ob.«
    »Sie saß auf der Mauer, als wüsste sie, dass wir kommen, als hätte sie auf uns gewartet …«
    »Als hätte sie darauf gewartet, dass die richtige Familie des Weges kommt, um sie mitzunehmen.«
    »Hast du jemals zuvor eine so schneeweiße Katze gesehen?«
    John schüttelte den Kopf. »Nein, nie. Ich habe sie sehr vermisst. Es gab einige Katzen in Portlaoise, darunter auch eine weiße, die mich an sie erinnerte.«
    »Dad, war es schrecklich?« Regis ergriff seine Hand.
    »Regis, Schatz.« Er verstummte. Ihr Blick war verständnisvoll und einfühlsam; er fragte sich, was sie wusste, woran sie sich erinnerte, wie sehr sie seinetwegen gelitten hatte.
    »Was war das Schlimmste?«
    Er überlegte. Es gab einiges, was zur Auswahl stand. Der Lärm, der Schmutz, die Anspannung und Wut, die Gitter und Mauern, das Wissen, dass es kein Entkommen gab. Doch schlimmer als alles andere war eine Erinnerung, die ihn jetzt noch schaudern ließ – die Erinnerung an den Augenblick, als er seine Entscheidung getroffen hatte. Was für einen Schaden hatte er damit bei ihr angerichtet? Doch diesen Gedanken laut auszusprechen war ein Ding der Unmöglichkeit. »Das Schlimmste war, dass ich eure Mutter und euch unendlich vermisst habe«, erwiderte er.
    »Uns ist es genauso gegangen. Wir haben dich so vermisst, Dad.«
    »Genau das hat mir Sorgen gemacht. Und dass ihr aufhört, daran zu glauben, dass ich wieder nach Hause komme.«
    »Das hätte ich nie getan«, erwiderte sie ungestüm.
    In diesem Augenblick kam Agnes mit ihrer Kamera zurück. Sie legte sie mit hoffnungsvollem Blick in Johns Hände. Die Kamera war klein und leicht, das Gewicht perfekt für ein heranwachsendes Mädchen. Ein einziger Blick auf das Display sagte ihm, dass der Schaden nicht leicht zu beheben war.
    Er versuchte, die Linsenabdeckung zu entfernen, aber sie klemmte. Irgendetwas war verbogen, und er wollte nicht gewaltsam vorgehen. Er sah, wie das Licht in Agnes’ Augen erlosch.
    »Ist sie hin?«
    »Ich bin mir nicht sicher.« Er hätte ihr gerne weiteren Kummer erspart, aber es war besser, ihr die Wahrheit zu sagen.
    »Und das Foto? Ist das auch nicht mehr zu retten?«
    »Vielleicht, Agnes. Es wäre möglich«, erwiderte er sanft.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie atemberaubend es war. Nicht nur das Foto, sondern auch das Motiv.«
    »Ich kann gut nachfühlen, wie das ist. Etwas im Bild festzuhalten, was einmalig ist, was man noch nie gesehen hat …«
    »Und es anderen zu zeigen. Allen, die man liebt.«
    »Es ist eine große Enttäuschung, wenn bei der Aufnahme etwas schiefläuft, oder wenn die Aufnahme gelingt und hinterher passiert etwas, weil man beispielsweise …«
    »Die Kamera fallen lässt«, ergänzte Agnes.
    »Ich sehe schon, du bist mit Leib und Seele Fotografin.« John zog sie lächelnd in

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