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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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sie vor langer Zeit fortgeräumt hatte. John hatte es nicht mehr geschafft, seine fertige Skulptur wie sonst üblich zu fotografieren, aber er hatte Aufnahmen von dem Areal in Ballincastle und den Arbeitsschritten vor dem Aufbau seiner Installation gemacht. Sie fand außerdem ihr Skizzenbuch von dieser Reise und blätterte die Studien durch, die am ersten Tag entstanden waren, als sie versucht hatte, die unheimliche Atmosphäre einzufangen – die Ruinen der Burg mit der Skulptur am Abgrund der Klippe.
    Als sie weiter in der Schachtel stöberte, entdeckte sie Ausschnitte aus der Tageszeitung von West Cork. Sie hatte damals genug Zeit gehabt, sie zu lesen, während sie im St. Finan’s Hospital darauf wartete, dass es Regis besser ging. Ihre Tochter hatte sich in einem lebensbedrohlichen Schockzustand befunden – sie war unfähig gewesen, zu sprechen oder alleine zu essen. John befand sich zu dem Zeitpunkt bereits in Untersuchungshaft, und Honor hatte versucht, aus den Zeitungsmeldungen mehr über die Hintergründe des Geschehens zu erfahren.
    Die Schwestern hatten ihr Tee gebracht und Mitgefühl mit der Frau bekundet, deren Ehemann eine solche Untat begangen hatte. In den Zeitungen hieß es, John habe mit White gekämpft und ihn schlimm zugerichtet; laut den Indizien seien die beiden Kontrahenten dabei von der Klippe gestürzt, und Whites Leiche habe an zwei Stellen Verletzungen aufgewiesen, die zu hohem Blutverlust geführt hatten. Honor hörte zufällig, wie die Schwestern tuschelten: »Ihr Mann hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
    Honor fühlte sich hundeelend. Sie kannten nur einen Teil der Geschichte. Warum weigerte John sich, seine Anwälte in die Lage zu versetzen, den Fall von allen Seiten zu durchleuchten und hervorzuheben, was zu seinen Gunsten sprach? Auch wenn er bereits das Geständnis abgelegt hatte, Greg White getötet zu haben, hatte er doch in Notwehr gehandelt, hatte Regis schützen wollen. Aber er verweigerte jede weitere Aussage und bekannte sich beim Criminal Court in Cork City schuldig.
    Als sich Regis’ Zustand so weit gebessert hatte, dass Honor das Krankenhaus verlassen konnte, war es bereits zu spät gewesen. Honor war nach Cork geeilt und musste erfahren, dass John zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden war. »Denk an die Mädchen!«, hatte sie ihn angefleht, doch er hatte nur den Kopf geschüttelt, sah ihr kaum in die Augen und hatte erwidert: »Genau daran denke ich, Honor. Auf diese Weise bleibt Regis eine Aussage vor Gericht erspart.«
    Sie war in Tränen ausgebrochen; sein eiserner Blick, seine Unbeugsamkeit, Hitzköpfigkeit und Wut kehrten sich nun gegen seine eigene Familie, kamen einem Todesurteil gleich, genau wie bei dem Mann, der es gewagt hatte, sie zu bedrohen. Als die Wärter ihn in seine Zelle zurückbrachten, wusste sie, dass das Leben nie mehr so sein würde, wie es gewesen war. Es war unverzeihlich, dass er das alles weggeworfen hatte. Diese Gefühle quälten sie nun, und sie ließ ihnen auf der Leinwand freien Lauf, hielt die Zerstörung ihrer Familie auf ihren Bildern fest, am Schauplatz des Geschehens: in Irland, auf Ballincastle. Als Honor die Burgruinen malte, dachte sie an ihre Familie, die ein Scherbenhaufen war, an ihren Ehemann, der genauso unbeugsam sein konnte wie das Gestein, das in seiner Kunst eine so große Rolle spielte, und Tränen liefen über ihre Wangen.
    Die Ärmel hochgekrempelt, verschwitzt und mit Farbe verschmiert, kam es ihr vor, als würde sie einen inneren Reinigungsprozess durchlaufen. Sie hatte entdeckt, dass die Malerei für sie die wirksamste Möglichkeit war, alles loszulassen, was sie bewegte und bedrückte, und das brauchte sie jetzt mehr als je zuvor. Ausgelaugt von der Sommerhitze, säuberte sie ihre Pinsel und ging in die Küche, um sich ein Glas Eistee zu holen.
    Sie setzte sich an den Küchentisch, genoss das erfrischende Getränk. Die Mädchen waren ausgeflogen, jede für sich. Regis arbeitete in der Bibliothek, Agnes hatte Putzdienst im Konvent, und Cece war mit dem Fahrrad unterwegs.
    Johns Blumen standen in einer Glasvase auf der Mitte des Tisches; rundherum lagen einige abgefallene blaue Blütenblätter und goldener Blütenstaub, der heruntergerieselt war. Sie starrte auf diesen goldenen Kreis und brachte es nicht über sich, ihn wegzuwischen – er war genauso schön wie die Blumen selbst. Manchmal hinterließen die vergänglichen Dinge im Leben genauso viele Spuren wie die dauerhaften. Der Gedanke

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