Wie Sand in meinen Händen
veranlasste sie, aufzustehen und den Brief, den Bernie ihr gebracht hatte, aus der Schreibtischschublade zu holen.
Das war ein kluger Schachzug von Bernie gewesen. Sie schlug sie mit ihren eigenen Worten. Honor hatte den Brief vor langer Zeit geschrieben, als sich ihre beste Freundin, die Schwester des Mannes, den sie liebte, in einer ähnlich verfahrenen Situation befand. Die Zeichnung auf dem Umschlag stammte indes von Bernie, war irgendwann nach Erhalt des Briefes entstanden. Sie stellte ein Meerungeheuer dar, das Wappentier der Kellys. Honor wusste, dass es darauf hinweisen sollte, was sie miteinander verband.
In Honors Familie redete man nicht über die Vergangenheit. Ihre Großeltern und Eltern hatten stets betont, wie glücklich sie sich schätzen durften, dass ihre Vorfahren nach Amerika ausgewandert waren.
»Schau niemals zurück«, hatte das Motto ihres Vaters gelautet. Es war besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nicht an das Leid zu rühren, das ihre Vorfahren dazu bewogen hatte, ihre irische Heimat zu verlassen.
Als Honor John, Bernie und Tom kennengelernt hatte, war ihr gewesen, als erwachte sie aus einem Dornröschenschlaf – sie waren durch die Hügellandschaft gestreift und hatten die Geschichte ihrer Familien zu einem unverzichtbaren Teil ihres Lebens gemacht.
»Ich fahre nach Irland. Mit dir, Bernie«, hatte Tom angekündigt, ungefähr ein Jahr später, nachdem sie bei einem gemeinsamen Spaziergang die Steinschatulle in der Mauer gefunden hatten.
»Wir werden sehen«, hatte Bernie erwidert und zu lächeln versucht. Der Konvent übte eine starke Anziehungskraft auf sie aus, und Honor wusste, wie zwiespältig ihre Gefühle für Tom waren.
»Unvorstellbar, was sie durchmachen mussten«, hatte Tom gesagt. »Von den Engländern wie der letzte Dreck behandelt, den Hungertod vor Augen. Die Überlebenden standen auf den Docks in Cobh und sahen den Schiffen nach, die ihre Kinder nach Amerika brachten – wohl wissend, dass sie sich niemals wiedersehen, dass die Familien für immer auseinandergerissen würden. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, wenn man seine Kinder so verliert?«
»Zum Glück haben wir keine Kinder«, stellte Bernie mit Tränen in den Augen fest, als sie an die Menschen auf den Docks dachte.
»Aber wir werden irgendwann welche haben, Bernadette«, meinte Tom.
Honor hatte John beobachtet. Sie war bis über beide Ohren in ihn verliebt und wusste, dass ihnen der Abschied von ihren Kindern, wenn sie welche haben würden, das Herz brechen würde. Sie sah, wie er mit der Hand an der Mauer entlangstrich, als wollte er die Menschen trösten, die so viel erduldet hatten.
»Fieber, Hunger«, sagte er. »Es waren nur die Stärksten, die es bis hierher schafften.«
»Und sie waren sehr gut in ihrem Beruf«, fügte Honor hinzu. Sie betrachtete einen vollkommen gerundeten Stein in der Mauer, perfekt eingefügt zwischen all den anderen. Wie hatten sie das geschafft? Johns Steinmetzvorfahren waren Künstler in ihrem Metier gewesen. Vielleicht hatte John seine Liebe zu Naturmaterialien – Felsen, Äste, Wasser und Eis – von ihnen geerbt.
»Cormac hat alles, was mit der Reise in Zusammenhang stand, für immer begraben«, sagte John. »Aber wir werden die Wahrheit herausfinden.«
»Was soll das heißen?«, fragte Honor.
»Du hast Tom gehört – er will mit Bernie nach Irland, zurück zu den Wurzeln. Wir werden das Gleiche tun. Denk an das Land in West Cork – die Klippen, die Meeresküste. Nicht zu vergessen den Norden, den Ring of Kerry, die Dingle Peninsula. Die Cliffs of Moher, bis hinauf nach Galway … die ganze Westküste, Honor. Das Land unserer Vorfahren, auf der anderen Seite des Atlantiks, die dem Ruf Amerikas folgten. Du malst, und ich werde ihnen ein Denkmal setzen, eine Skulptur am Rande des Festlandes, direkt auf der Klippe, mit Blick auf Amerika.«
»Sullivan am Rande des Abgrunds«, ließ sich Tom vernehmen. »Typisch. Geht es dir darum, das Gefühl des Exils und des Verlusts darzustellen?«
»Das Gefühl, das alte Leben aufzugeben, um ein neues beginnen zu können«, sagte John. »Für sie war dieser Aufbruch ein großes Wagnis. Warum sollte ich es scheuen?« Dann legte er die Arme um Honor und sagte: »Versprich mir, dass du mit mir kommst, ja?«
»Das würde ich mir um keinen Preis der Welt entgehen lassen«, hatte sie aufgeregt erwidert und einen Schauder am ganzen Körper verspürt.
Als sie nun am Küchentisch saß, überlegte sie, wann sie sich
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