Wie Sand in meinen Händen
Einziger, was wirklich geschehen war.
Zu Hause auf Star of the Sea angekommen, war Regis sofort in ihr Zimmer gegangen, um sich hinzulegen. Als sie aufwachte, war es nach Mitternacht. Sie hörte Brendan und Agnes, die sich draußen leise unterhielten. Cece schlief. Aus dem Atelier ihrer Mutter klang leise Musik herüber.
Ihr war, als sei sie aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Sie starrte den Ring an ihrem Finger an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und überlegte, was genau auf Hubbard’s Point geschehen war, ließ eine Szene nach der anderen Revue passieren, wie ihren ganz persönlichen kleinen Film.
Sie hatte weiter hinten bei ihren Schwestern und Brendan gestanden und sich gefreut, ihre Eltern zu sehen, die zur Kinovorstellung gekommen waren. Dann waren ihre Eltern zur Strandpromenade gegangen, um die Drakes zu begrüßen, und dann hatte Peters Vater diese hämische Bemerkung gemacht.
Und das war’s. Sie musste der Tatsache ins Gesicht sehen: Ralph Drakes Verhalten war unhöflich und gefühllos gewesen, aber mehr nicht. Ihr Vater hätte den Affront überlebt – und sich am Ende vielleicht sogar darüber lustig gemacht.
Sie musste … was hatte Peter gesagt? … verrückt geworden sein. Ein hysterischer Anfall, der sie dazu gebracht hatte, auf Peters Vater loszugehen. Unbegreiflich, was sie sich dabei gedacht haben mochte. Doch auf Hubbard’s Point hatte sie das Gefühl gehabt, es ginge um Leben und Tod, und deshalb war sie ihrem Vater zu Hilfe geeilt.
Peter hatte sie angesehen, als sei sie das Letzte. Seine Eltern auch. Aber das war ihr egal. Sie hatte eine Mission zu erfüllen, hatte Peters und ihren Vater trennen müssen, damit er nicht verletzt wurde. Sie hätte alles getan, um das zu verhindern. Wie im Zeitlupentempo sah sie wieder vor sich, wie Mr. Drake nach vorne geschnellt war. Hatte sie befürchtet, er könnte ihren Vater schlagen? Ja, so musste es gewesen sein.
Was hatte sie am Strand geschrien? Die Worte waren wie von selbst über ihre Lippen gekommen. Sie waren noch da, an der Schwelle des Bewusstseins, doch wenn sie ihnen jetzt freien Lauf ließ, würden sie sich nie mehr in das Dunkel des Vergessens zurückdrängen lassen. Sie waren gestern Nacht aus ihrem Versteck gekommen, hatten sie jahrelang am Rande ihrer Träume aufgefordert, ihrer Bedeutung auf die Spur zu kommen.
Sie zitterte. Wann hatte dieser Alptraum angefangen? Sie stieg aus dem Bett. Ihre Mutter war in ihrem Atelier; sie wusste, dass es besser gewesen wäre, zu ihr zu gehen und ihr zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen musste, doch sie brachte es nicht fertig. Der Nebel begann sich zu lichten, aber ihre Gedanken waren ein einziger Wirrwarr, und es galt sie zu ordnen, bevor sie mit ihrem Vater oder ihrer Mutter darüber sprach.
Sie ging in die Küche. Hier hatte die erste gemeinsame Mahlzeit nach sechs Jahren stattgefunden. Sie hatte sich einreden wollen, dass alles wieder gut werden würde. Ihre Eltern hatten den Platz eingenommen, an den sie gehörten – an den beiden Stirnseiten des Tisches.
Sie setzte sich.
Rühr meinen Vater nicht an …
Warum hatte er niemandem etwas erzählt? Warum hatte er ein solches Geheimnis daraus gemacht? Die Familie war zerbrochen, weil er die Wahrheit in sich verschlossen hatte. Sie schlug die zitternden Hände vor die Augen. Regis wünschte, sie könnte die Bilder verdrängen, die ihr durch den Kopf gingen.
Sie bettete den Kopf auf den Tisch. Sie war so müde – erschöpft von der Anstrengung, die Erinnerungen sechs Jahre lang verdrängt zu haben. Plötzlich sah sie die Ecke eines blauen Briefumschlags unter einem Platzdeckchen hervorlugen und zog ihn heraus. Auf der Rückseite befand sich eine sonderbare Zeichnung, laienhaft gemalt: ein mit Schnörkeln versehenes, schlangenähnliches Meerungeheuer, das sich aus den Wellen erhob. Es erinnerte an das Fabelwesen in Tom Kellys Familienwappen. Sie hatte es als Kind gerne betrachtet.
Der Umschlag war blau … Er war alt – nicht uralt, aber vermutlich älter als sie selbst und an den Kanten leicht vergilbt. Doch die Handschrift war ihr genauso vertraut wie ihre eigene.
Der Umschlag trug die Handschrift ihrer Mutter und war an Tante Bernie gerichtet. Vorsichtig zog sie ein einzelnes, brüchiges Blatt Papier heraus.
Sie beugte sich über den Brief und begann zu lesen.
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22. Kapitel
D er nächste Morgen dämmerte warm herauf, mit Nebelschleiern, die aussahen, als hätten sie
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