Wie Sand in meinen Händen
war ein Cousin zweiten Grades; die Hälfte aller stellvertretenden Bezirksstaatsanwälte hatte Kelly-Blut in den Adern. Der staatlich ernannte Pflichtverteidiger war nach Francis X. höchstselbst benannt.
Die Liga der Pro-bono-Anwälte, bekannt für die zumeist kostenlose Beratung und Vertretung in Fällen, die einen langen Atem erforderten und für viele die letzte Chance darstellten, fand sich jeden Sommer nahezu geschlossen beim großen Familientreffen der Kellys ein.
John wusste, wenn er sich auf das von der Verfassung garantierte Recht auf einen Rechtsbeistand berufen würde, hätte er binnen einer Stunde einen Kelly an seiner Seite.
Doch dieses Mal war er unschuldig und als notorischer Dickschädel davon überzeugt, dass diese Polizistin ein Mensch war, der verstehen würde, wie sehr er seine Tochter liebte und dass er so schnell wie möglich hier heraus musste, um ihr beizustehen.
»Meine Tochter ist zwanzig«, sagte er. »Sie ist verlobt, aber ich glaube, sie ist gerade dabei, noch einmal gründlich darüber nachzudenken. Sie war in Irland bei mir, als – als …«
»Als Sie wegen Totschlags verhaftet wurden«, beendete Detective Cavanagh den Satz. Sie blätterte in irgendwelchen Schriftstücken, und als John erkannte, um was es sich handelte, begann sein Herz zu klopfen. Warum hatte sie seine Polizeiakte aus Irland vor sich liegen?
»Ja«, erwiderte er. »Ich bin gerade erst entlassen worden. Die Beziehungen in meiner Familie waren immer sehr eng; nach so langer Zeit müssen wir uns erst wieder aneinander gewöhnen.«
»Was wissen Sie über den Vandalismus in der Grotte der Akademie?«
Der abrupte Themenwechsel verunsicherte John; hatte er Cavanagh falsch eingeschätzt? Er hatte den Eindruck gehabt, als gelte ihr Interesse dem menschlichen Faktor, doch offenbar ging es ihr nur um die Inschrift, die in den Stein gekratzt worden war, und nicht um Regis.
»Hören Sie«, sagte er. »Ich nehme an, dass meine Schwester Sie ursprünglich aus diesem Grund benachrichtigt hat, aber inzwischen gibt es etwas Wichtigeres, worum Sie sich kümmern sollten – um meine Tochter. Sie gehört nicht zu den Mädchen, die von zu Hause abhauen, verschwinden – das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Ihre Mutter und ich machen uns Sorgen …«
»Das verstehe ich, Mr. Sullivan. Wir versuchen, die näheren Umstände zu klären, um herauszufinden, ob das Verschwinden Ihrer Tochter etwas mit den Geschehnissen in der Grotte zu tun haben könnte.«
»Was soll das mit der
Grotte?
« Er sprang auf, nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Da versucht doch nur jemand, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Vandale, ein religiöser Fanatiker, weiß der Kuckuck! Vergessen Sie’s – ich dachte, Sie sind daran interessiert, Regis zu finden!«
»Setzen Sie sich«, sagte sie barsch.
John vergrub das Gesicht in den Händen; es war einfach unfassbar – hier saß er herum und vertrödelte seine Zeit, während Regis sich irgendwo verkrochen hatte und ihn mehr denn je brauchte. Er dachte wieder daran, was Brendan ihm über Regis’ Träume berichtet hatte. Ob der Junge Detective Gaffney davon erzählen würde?
»Ihre Tochter Regis hat gestern auf Hubbard’s Point einen Mann tätlich angegriffen«, sagte Detective Cavanagh nach einem Blick in die Akte. »Sie soll dabei geschrien haben: ›Rühr meinen Vater nicht an!‹«
»Das war kein Angriff. Sie war außer sich und ist im Eifer des Gefechts ein wenig über das Ziel hinausgeschossen, wie ich zugeben muss.«
»Ein Zeuge hat ausgesagt, dass Sie in eine verbale Auseinandersetzung verstrickt waren und Ihre Tochter in der Absicht, sie zu verteidigen, handgreiflich wurde.«
Nun wusste John Bescheid. Auf diese Weise hatten sie also von seiner Vorstrafe erfahren; jemand hatte gestern Abend die Polizei benachrichtigt und sie darauf aufmerksam gemacht. Er schüttelte den Kopf. »Hören Sie, Detective. Das ist eine Sache, die nur meine Tochter und ich regeln können. Warum glauben Sie mir nicht einfach und lassen mich gehen, um sie zu suchen?«
»Es wäre wirklich hilfreich, wenn Sie mir erzählen würden, was genau passiert ist.«
»Mit einem Namen wie Cavanagh sollten Sie eigentlich wissen, wie die Iren sind. Meine Tochter hat die Seele eines Dichters.« Er kämpfte mit sich, wusste, dass er überzeugend klingen musste, damit sie ihn gehen ließ. »Die Gefühle gehen bei ihr sehr tief. Ich hatte gestern Abend einen Disput mit ihrem künftigen Schwiegervater. Sie meinte, er
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