Wie Sand in meinen Händen
meine Eltern nicht mehr in der Verfassung, irgendwelche Fragen zu beantworten. Meine Tante sagte, die beiden hätten keine eigenen Kinder bekommen können, deshalb hätten sie mich adoptiert. Aber dann, ein paar Jahre später, sei meine Mutter schwanger geworden. Und Paddy wurde geboren … Meine Eltern reden bis heute nicht darüber.«
»Brendan, Eltern lieben ihre adoptierten Kinder genauso, als wäre es ihr eigen Fleisch und Blut. Vielleicht so sehr, dass sie Angst haben, sie zu verlieren, und ihnen lieber die Wahrheit und die genauen Umstände verschweigen.«
»Aber die Wahrheit und die genauen Umstände
sind
wichtig«, erwiderte Brendan leise. »Auch für Regis.«
John wurde von Erinnerungen überkommen. Er sah wieder die silbergrünen Hügel von West Cork vor sich, die sich schwarz färbten, als dunkle Wolken heraufzogen, Vorboten des nahenden Unwetters. Die schroffen Klippen von Ballincastle, die Wellen, die gegen die Felsen brandeten. Der strömende Regen, seine Skulptur, die am Rande des Abgrunds schwankte, die Ruinen des Wehrturms, der alles überragte. Greg White, wie von Sinnen, der sein Werk zerstörte und dabei brüllte, dass John ihm Geld schulde.
»Wäre Regis nur nicht auf die Klippe gekommen«, stöhnte John.
»Sie sind ihr die Wahrheit schuldig.«
»Ich habe sie nie belogen.« Johns Kehle war wie zugeschnürt. Ihm wurde bewusst, dass er sich selber belog.
»Sie haben die Schuld auf sich genommen. Sie haben die Wahrheit zurechtgebogen, damit es Regis erspart blieb, sich damit auseinanderzusetzen – und damit bewirkt, dass sie sechs Jahre lang ohne Vater war.«
John brachte kein Wort über die Lippen. Er blickte Brendan an, dessen Augen trotz seiner Jugend – er konnte nicht älter als vierundzwanzig sein – von Mitgefühl und Weisheit zeugten.
»Aber sie wird in ihren Träumen davon heimgesucht.«
»Wo ist Regis? Wo könnte sie stecken?«
»Das weiß ich nicht.«
In dem Augenblick kamen die beiden Detectives herein. Detective Gaffney winkte Brendan zu sich, während Detective Cavanagh die Tür zu einem kleinen Vorraum aufhielt und John bedeutete, einzutreten.
Als er sich umsah, fiel es ihm schwer, sich nicht nach Irland zurückversetzt zu fühlen, auf die Polizeistation, wo die erste Vernehmung stattgefunden hatte. Brendans Worte klangen in seinen Ohren nach. Er dachte daran, was der Junge über Lügen gesagt hatte und dass ein Mensch ein Anrecht auf die Wahrheit hatte. Rückblickend fragte er sich, ob er damals vor sechs Jahren in Anbetracht der Ausnahmesituation, in der er sich befunden, und der Entscheidung, mit der er nur das Beste für Regis gewollt hatte, nicht den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.
»Bitte, Mr. Sullivan«, sagte Detective Cavanagh und forderte ihn auf, sich zu setzen. Dann nahm sie auf der anderen Seite des kleinen Schreibtisches Platz. Er schätzte sie auf Anfang vierzig; sie trug eine schwarze Hose und eine gestärkte weiße Bluse, hatte braune Haare mit hellen, von der Sonne ausgebleichten Strähnen. Hinter ihrem Lächeln, das aufrichtig wirkte, spürte man eine Unbeugsamkeit, die ihn an ihre Kollegen in Ballincastle erinnerte.
»Ich muss meine Tochter finden«, sagte er.
Sie nickte, musterte ihn schweigend.
»Sie hat … einiges durchgemacht«, stammelte er. Wenn es ihm gelang, an ihr Mitgefühl zu appellieren – er hatte es in der Grotte wahrgenommen und spürte es auch jetzt –, konnte er ihr vielleicht begreiflich machen, wie wichtig es war, sofort nach ihr zu suchen, statt kostbare Zeit mit ihm zu verschwenden; auch er könnte sich dann auf die Suche machen.
»Was meinen Sie mit ›einiges‹, Sir?«
John überlegte fieberhaft. Eigentlich war dies der Moment, wo er nach einem Anwalt verlangen sollte; an dieser Stelle hatte er in Irland einen großen Fehler begangen. Um Regis zu schützen, hatte er eine Aussage gemacht, die später gegen ihn verwendet worden war. Einem guten Anwalt wäre es vielleicht gelungen, die Wirkung seiner Aussage vor Gericht abzumildern, ohne Regis in den Zeugenstand zu rufen.
Es wäre besser, wenn er den Mund hielt und sich weigerte, Fragen zu beantworten, außer nach Rücksprache mit seinem Anwalt. Er könnte Tom anrufen – es gab mehr Rechtsanwälte vom Kelly-Clan in Hartford als Steine in den Mauern der Akademie. Sie galten als Schwergewichtler in ihrem Metier – vertraten alles, was Rang und Namen hatte, von der Erzdiözese bis hin zu großen Versicherungsgesellschaften. Der Oberstaatsanwalt
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