Wie Sand in meinen Händen
strömenden Regen, als er sie angegriffen hatte – groß, ausgemergelt, mit zottigen braunen Locken und stechenden, grünen Augen. Und wie er nach dem Handgemenge mit ihrem Vater auf dem nassen Felsen lag, aus einer Kopfwunde blutend.
Erinnerungen waren wie Felsen bei Ebbe: Sie waren vorhanden, sichtbar und unverkennbar. Doch mit der Flut kam die erste Welle, glitt über sie hinweg, so dass der Seetang im Wasser plätscherte, sich kräuselte, hin und her wogte; dann folgte die zweite Welle, höher als die erste, und danach die dritte – Schlag auf Schlag, bis man nicht mehr sicher sein konnte, ob sich unter der Oberfläche überhaupt Felsen verbargen.
Ihr Vater sah sie an, in seinen Augen spiegelte sich die Angst vor dem, was sie als Nächstes sagen könnte.
»Ich habe ihn umgebracht, Dad.«
»Regis, nein …«
John setzte sich auf die Mauer, schüttelte den Kopf, als könnte er die Vergangenheit verscheuchen, ihre Erinnerungen wieder der Dunkelheit des Vergessens anheimgeben. Tränen traten in ihre Augen, sie hatte Angst davor, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was damals geschehen war.
»Er lag auf dem Boden. Nachdem du ihn mit einem Faustschlag niedergestreckt hattest.«
»Regis.« Johns Stimme klang flehentlich. »Seither ist so viel Zeit vergangen. Du hast das alles tief in dir vergraben, aus gutem Grund. Bitte, Regis …«
»Deine Skulptur war ein einziger Schutthaufen. Du dachtest, er würde nun Ruhe geben, und als du dich überzeugt hattest, dass mir nichts weiter passiert war, hast du dich umgedreht, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Steine, Treibholz, alles lag auf dem Boden, ein heilloses Durcheinander.«
»Mein Gott, Regis. Warum habe ich in dem Moment überhaupt einen Gedanken daran verschwendet? Ich hätte dich sofort wegbringen müssen.«
»Du warst wie gelähmt, als du gesehen hast, was er angerichtet hatte. Die ganze Arbeit, die ganze Mühe umsonst. Du bist am Rande der Klippe gestanden und hast angefangen, die Bruchteile aufzulesen, die er mit einem Fußtritt dorthin befördert hatte. Vermutlich sollten sie im Abgrund landen.«
»Ich hätte dich umgehend nach Hause bringen müssen.«
»Aber Greg White war keineswegs kampfunfähig – kaum hattest du ihm den Rücken zugekehrt, hat er sich wieder hochgerappelt; dann hat er nach einem Stein gegriffen – einem großen, den er von deiner Skulptur heruntergerissen hatte«, fuhr Regis fieberhaft fort, während sie alles wieder so genau vor sich sah, als würde sie es noch einmal erleben. »Ich konnte nicht tatenlos zuschauen. Er war zu groß und zu stark für mich, um mit ihm zu kämpfen oder ihn von dir wegzuziehen, und du bist am Klippenrand gestanden. Ich dachte, er würde dir einen Schlag mit dem Stein versetzen und dich hinunterstoßen.«
Sie blickte die Mauer an, sah abermals den Stein in den Händen von Greg White vor sich. Er hatte die Arme hochgerissen und zum Schlag ausgeholt, um ihrem Vater den Schädel einzuschlagen.
»Ich begann zu schreien: ›Rühr meinen Vater nicht an!‹ Es regnete in Strömen, und der Wind heulte – ich hatte das Gefühl, als blieben mir die Worte im Hals stecken; ich versuchte dich zu warnen und ihn aufzuhalten, aber es gelang mir nicht …«
»Regis, Liebes, bitte nicht …«
»Ich packte das nächstbeste Stück Treibholz …«
Es kam ihr vor, als befände sie sich in einem Trancezustand. John hielt ihre Hand; sie ließ es geschehen, sie wusste, dass sie nun nichts mehr zu befürchten hatte. Sie fragte sich, ob man sich so fühlte, wenn man hypnotisiert worden war. Sie spürte den Wind in ihrem Haar, leicht und sanft, ganz anders als das ohrenbetäubende Heulen des Sturms in Ballincastle. Sie fühlte sich mit einem Mal wie neugeboren, alle Sinne waren geschärft. Der Atem ihres Vaters verriet ihr, wie angespannt er war, und Tränen liefen über seine Wangen.
»Ich sah noch, wie er sich umdrehte«, fuhr sie fort. »Er stand genau in der Mitte, zwischen dir und mir. In dem Moment blickte ich nach unten und sah, wie ein Stück von der Klippe wegbrach.«
»Regis.« Der Blick ihres Vaters war verzweifelt; er konnte nicht wissen, was für eine Erleichterung diese Aussprache für sie war.
»Du hast nichts gehört. Der Sturm heulte … übertönte meine Stimme. Ich hatte keine andere Möglichkeit, ihn aufzuhalten, Dad.«
Regis holt tief Luft, blickte ihrem Vater in die Augen.
»Er sah mich an, dann dich, mit diesem ungläubigen Ausdruck im Gesicht. Er dachte nicht, dass ich Ernst
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