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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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machen würde. Dann holte er abermals zum Schlag aus, um dir den Stein …«
    Ihr Vater hörte ihr gebannt zu.
    »Ich riss den Ast hoch, brüllte: ›Rühr meinen Vater nicht an!‹« Regis wurde von der Erinnerung überwältigt. »Ich schlug zu, mit aller Kraft. Dad, ich habe es in meiner Hand gespürt, als ich ihm … den
Schädel
einschlug.«
    »Regis.« Er wollte sie in die Arme nehmen, aber es war noch zu früh, Trost bei ihm zu suchen.
    »Wir stürzten alle von der Klippe. So groß war die Wucht, mit der ich zugeschlagen hatte, dass ich uns alle mit in den Abgrund riss. Wenn dieser kleine Felsvorsprung nicht gewesen wäre, wären wir alle tot. Stattdessen … Oh Dad. Dieser Anblick, als ich sein Gesicht sah, grauenvoll! Er lebte noch, Blut strömte aus der Kopfwunde, rann ihm in die Augen, und er sah mich an, völlig entgeistert. Und dann brach sein Blick, und er war tot!«
    Ihre Gedanken waren mit einem Mal so klar, dass sie in Tränen ausbrach. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie gehabt hatte, nicht um sich selbst, sondern um ihren Vater.
    »Regis, Liebes, du hast mir das Leben gerettet«, brach es aus ihrem Vater heraus, und er schloss sie in die Arme.
    »Warum hast du den
Gardai
nichts davon gesagt?«, fragte Regis schluchzend. »Warum wurdest du für etwas verurteilt, was ich getan habe?«
    »Weil ich gedroht hatte, ihn umzubringen. Dafür gab es jede Menge Zeugen. Mein Streit mit White war bekannt.«
    »Aber warum hast du nicht gesagt, dass ich es war, dass es Notwehr gewesen war?«
    »Regis, du bist meine Tochter. Ich konnte nur daran denken, dich aus allem herauszuhalten. Ich hatte uns in diese Situation gebracht. Als die
Gardai
eintraf, habe ich ihnen gesagt, dass es Notwehr war und ich dich beschützen wollte. Du warst damals noch klein; denkst du, sie hätten mir geglaubt, wenn ich ihnen erzählt hätte, es sei andersherum gewesen?«
    »Aber du musst gedacht haben, ich hätte seelenruhig dabei zugeschaut, als sie dich ins Gefängnis steckten«, sagte Regis und schnappte nach Luft.
    »Nein, das wäre mir im Traum nicht eingefallen.«
    »Warum hast du mich dann nicht aussagen lassen?«
    »Regis, du konntest dich nicht mehr an das erinnern, was geschehen war, wie ich von deiner Mutter hörte; dafür war ich zutiefst dankbar. Diese Erinnerungen wollte ich dir ersparen …«
    »Aber jetzt sind sie zurückgekehrt«, erwiderte sie leise. »Das Schlimmste daran ist der Gedanke, dass er dich umbringen wollte.«
    »Ich weiß.«
    »Als ich gestern Abend sah, wie Peters Vater auf dich losging, war mit einem Mal alles wieder da«, flüsterte sie. »Ich habe nicht eine Sekunde gezögert – nur blind reagiert. Mein Herz klopfte wie verrückt, es kam mir vor, als hätte ich das Ganze schon einmal erlebt. Ich versetzte ihm einen Stoß, wie damals Greg White. ›Rühr meinen Vater nicht an …‹ Seit sechs Jahren verfolgen mich diese Worte im Traum. Gestern Abend, als ich sie Mr. Drake entgegenschrie, machte es plötzlich klick. Genau das war das Stück, das im Puzzle noch gefehlt hatte.«
    »Alles ist gut, du bist in Sicherheit, Regis. Und ich auch.«
    Das goldene Licht der untergehenden Sonne wanderte über Fluss und Sund, über Felder und Weingarten, über das Schieferdach der Akademie und die langen gewundenen Steinmauern, die von Westen nach Osten führten, den ganzen Weg, bis nach Irland.
    Die Schatten wurden länger – ragten aus Bäumen, Felsen, dem Turm der Kapelle, den Mauern und dem Hügel auf. Sie verbargen Dinge, die im hellen Licht des Tages auf den ersten Blick sichtbar waren: ein Kaninchen, das neben der Mauer saß und sich am Gras gütlich tat, die ersten roten Blätter in den Ahornbäumen unweit des Tümpels, die reifen purpurfarbenen Trauben an den Rebstöcken, Tante Bernie und Brendan, die auf einer Bank neben der Blauen Grotte saßen. Und Honor …
    Verborgen im Schatten der Mauer, blickte Regis vom Hügel hinab und sah ihre Mutter im Labyrinth ihres Vaters sitzen – in der Mitte, im Zentrum der Steine, die er gesammelt hatte. Das weiche Spätsommerlicht verlieh ihnen einen silbrigen, magischen Schimmer. Die Flut setzte ein, die ersten Wellen erreichten die größten Felsblöcke am Außenrand des Labyrinths.
    Ein seltsamer Ort, an dem ihre Mutter wartete. Um diese Zeit, an einem Abend im August, wäre sie normalerweise zu Hause gewesen, hätte gemalt oder das Abendessen zubereitet. Oder sie hätte sich mit Cece oder Agnes unterhalten. Aber Tante Bernie hatte sie angerufen,

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