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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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gelegen war und sich besser für das bevorstehende Gespräch eignete, wie sie beide wussten.
    Sie erklommen den Hügel, schlugen den Weg zur langen Steinmauer ein. Von hier aus erinnerte sie an das Rückgrat eines Menschen; sie bildete die zentrale Achse des Anwesens, auf dem sich die Akademie befand, wirkte stark und klar strukturiert, als könnte das Land nicht ohne sie existieren. Als sie an der Mauer entlanggingen, ließ Regis ihre Hand über die obersten Steine gleiten; sie erinnerte sich, dass sie das als Kind getan hatte, damals war sie vielleicht fünf Jahre alt gewesen. Die Steine fühlten sich warm an, hatten die Sonnenglut gespeichert.
    Als sie die Stelle erreichten, an der John die Schatulle gefunden hatte, blieben beide gleichzeitig stehen.
    »Dad, ich habe dir etwas zu sagen.«
    »Ich weiß. Und ich dir.«
    »Es geht um Ballincastle, Dad.«
    »Regis …«
    »Bitte, du musst mir zuhören.«
    »Zu diesem Thema ist alles gesagt.«
    Seine Miene war so besorgt, dass sie einen Moment lang das Bedürfnis verspürte, einen Rückzieher zu machen und das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Doch das hatte sie bereits zu lange getan, und sie
musste
ihm sagen, was sie
wusste.
    »Ich erinnere mich wieder, Dad.«
    »Woran?«, fragte er vorsichtig. »Und was für eine Rolle sollte das spielen? Es ist vorbei, Regis.«
    »Genau das ist der springende Punkt. Ich dachte, Erinnerungen wären unvergänglich – dass sie ewig im Gedächtnis haften, wenn man sie einmal dort abgelegt hat.« Blinzelnd im hellen Licht der Spätnachmittagssonne, sah sie ihn an.
    Sein Blick war gequält, als wünschte er, dass er sie davon abhalten könnte, sich dieser Tortur auszusetzen. Doch sie hatte diesen Weg beschritten, und nun es gab kein Zurück mehr.
    »Zuerst war da nur Leere.« Sie hielt inne, blickte über die Felder auf das spiegelglatte, glitzernde Wasser hinaus. »Nur Dunkelheit. Das war alles, was ich sehen konnte, als würde mir ein Vorhang die Sicht versperren. Ein dichter, dunkler Vorhang. Lange Zeit war das alles, was mir von jenem Tag in Erinnerung geblieben ist.«
    »Lass es gut sein, Regis«, bat John inständig.
    Sie schüttelte den Kopf. »Bitte hör mir zu, Dad. Nach einer Weile erinnerte ich mich, dass ich gehört hatte, wie er dich anschrie, er ließe sich nicht mit dem bisschen Geld abspeisen und du solltest ihm sagen, wo das Gold vergraben ist – das Piratengold. Ihr habt euch geprügelt, und du hast gesagt, du wärst ihm nichts mehr schuldig und er solle sich vorsehen, du hättest ihn gewarnt … und dann hörte ich, wie ich schrie und versuchte, euch zu trennen. Er versetzte mir mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Rippen – es tat so weh, ich bekam keine Luft mehr und fiel hin. Und da hast du rotgesehen, Dad. Du bist mit den Fäusten auf ihn losgegangen – ich konnte hören, wie du auf seinen Kopf eingeschlagen hast. Und plötzlich lag er am Boden, blutend, und du hast mich in die Arme genommen und gesagt, dass alles gut wird.«
    »Genau so war es.«
    »Aber das war noch nicht alles.«
    »Regis, Liebes, lass es dabei bewenden.«
    »Nein, Dad. Bitte hör zu. Mir ist inzwischen noch mehr eingefallen …« Sie schloss die Augen.
    Was war eine Erinnerung, eine tief verwurzelte Angst, der Splitter eines Alptraums? Stimmen, Empfindungen, ein Stoß, ein Schritt zur Seite …
    »Das ändert nichts daran, was damals geschehen ist. Ich bin dem Falschen über den Weg gelaufen. Das ist mir damals häufig passiert … ich hätte ihn niemals einstellen dürfen. Ich habe ihn für seine Arbeit bezahlt, eine einmalige Angelegenheit, doch dann konnte ich ihn nicht mehr loswerden. Und danach habe ich den Fehler begangen, ihm in einer Bar, in der es von Menschen wimmelte, zu drohen.«
    »Ich weiß.«
    »Im Eifer des Gefechts sagt man manchmal Dinge, die man nicht ernst meint. Ich war außer mir, weil er versucht hatte, meine Skulptur zu zerstören. Ich hätte damals schon die Polizei einschalten sollen. Doch das tat ich nicht, und dafür musste ich büßen.«
    Regis schloss abermals die Augen. Bruchstücke eines Gesprächs zwischen ihren Eltern fielen ihr wieder ein, unmittelbar bevor ihr Vater in den Sturm hinausgegangen war. John hatte den Fremden erwähnt, der ihm beim Aufbau der Skulptur geholfen hatte, den er aber schon nach wenigen Tagen gefeuert hatte, weil ihm der Mann unheimlich wurde. Deshalb hatte sie ihrem Vater nachgehen wollen, um ihm notfalls beizustehen.
    Sie sah Greg White wieder vor sich, an jenem Tag im

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