Wie Sand in meinen Händen
überzeugt, dass es das Beste war, zu gehen.
Die Polizei hatte eine klare Grenze gesetzt, im Gegensatz zu John. Er wusste nicht mehr, wo die Grenzen in seinem Leben verlaufen sollten. Er liebte Honor und die Mädchen über alles, doch mit allem, was er tat, schien er ihnen zu schaden. Er hatte seinen Töchtern von klein auf beigebracht, dass es nur eine Möglichkeit gab, den Zwängen im Leben zu entfliehen: indem man sich so weit wie möglich an die Grenzen vorwagte. Und ausgerechnet Regis, seine älteste Tochter, hatte sich diese Philosophie zu eigen gemacht.
Hoffentlich hatte sie diese Grenzen nicht so weit überschritten, dass keine Umkehr mehr möglich war. Er musste sie finden. Vielleicht hatte sie auf der Klippe am Devil’s Hole Zuflucht genommen; er würde hinaufsteigen und nachsehen. Er würde überall nach ihr suchen. Und sobald sie sicher zu Hause war, würden sich ihre Wege trennen. Der Schmerz, den er gestern Abend in Honors Augen gesehen hatte, war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte ihr genug angetan, es reichte für ein ganzes Leben.
»Tja, das weckt so einige Erinnerungen«, meinte Chris, als sie durch den Weingarten fuhren. »Weißt du noch, wie wir hier als Kinder die Gegend unsicher gemacht haben, John?«
»Wie könnte ich das jemals vergessen.« John blickte aus dem Fenster, verinnerlichte ein letztes Mal jede Handbreit des Landes, das er über alle Maßen liebte.
»Brendan, Johns Urgroßvater hat diese Mauern errichtet, die du überall siehst. Er war Steinmetz, kam mit einem Einwandererschiff aus Irland, ein bärenstarker und talentierter Mann.«
»Und Chris’ Urgroßvater war Großgrundbesitzer; ihm gehörte alles, was du hier siehst, das Herrenhaus und die Ländereien«, sagte John. »Er war ein Philanthrop, großherzig gegenüber jedem, der seinen Weg kreuzte.«
»Mein Ururgroßvater«, sagte Brendan leise.
John hörte ihn.
»Was hast du gesagt?«, fragte Chris lachend.
»Da wären wir«, sagte Brendan, als der Wagen nahezu lautlos vor dem Haupttrakt der Akademie, Francis X. Kellys ehemaligem Herrenhaus hielt, direkt vor Schwester Bernadette Ignatius – die am Rand der Zufahrt stand, den Arm um ihre älteste Nichte gelegt. Agnes und Cece hatten sich dicht an sie gedrängt, und Sisela saß zu ihren Füßen.
»Regis!« John riss die Tür des Wagens auf.
»Dad!«, rief sie und rannte von Bernies Seite.
»Regis!« Es gelang ihm, aus dem Auto zu steigen und sie in die Arme zu schließen. »Mein Liebling, alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung, Dad. Zum ersten Mal seit langer Zeit …«
»Wo warst du?« Er hielt sie auf Armeslänge von sich und sah sie an. »Warum bist du weggelaufen?«
»Sie ist nicht sehr weit gekommen«, sagte Bernie. »Sie war in der Bibliothek und hat auf mich gewartet.«
»Stimmt das?«, fragte John.
Regis nickte. »Ich konnte nicht weg. Weil ich mit dir reden musste. Mit Mom auch, aber mit dir zuerst.«
»Werde ich noch gebraucht?«, fragte Chris. »Ich kann meine Verabredung zum Golf absagen.«
John sah ihn dankbar an und nickte.
»Hallo Chris«, sagte Bernie. »Fühl dich wie zu Hause. Du kennst dich ja aus.«
»In der Tat, Schwester.«
»Komm, lass uns irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können«, sagte John zu Regis. Brendan war bei Agnes, umarmte sie, flüsterte ihr etwas zu. Agnes lauschte, küsste ihn auf die Wange und ergriff Ceces Hand. Dann gaben die beiden ihrer Schwester einen Kuss und eilten zum Strand.
John sah, wie Brendan seinen Blick auf Bernie richtete. Als er mit Regis davonging, blieben die beiden zurück. Sein Herz flog ihnen entgegen, doch nun galt seine ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Tochter. Sie brauchte ihn mehr denn je. Und was immer sie ihm erzählen mochte, er hatte ihr auch ein paar Dinge zu sagen.
Regis’ Herz klopfte, sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gespräch mit ihrem Vater, eine echte Aussprache – das hatte sie in den Träumen der vergangenen Nächte herbeigesehnt und gefürchtet. Sie gingen durch den Weingarten, der bereits vom spätsommerlichen, würzigen Duft der Trauben erfüllt war.
Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde sie ihn bitten, sie zum Devil’s Hole zu begleiten, dem furchterregendsten Ort, den sie kannte, nach Ballincastle. Sie würde ihm zeigen, wie unerschrocken sie war, wie nahe sie es wagte, am Abgrund zu stehen – weil sie von ihm gelernt hatte, auf ihren Instinkt und ihre Stärke zu vertrauen. Doch nun gab es einen Ort, der näher
Weitere Kostenlose Bücher