Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
betrachtete ihre Hand, die immer noch mit seiner verschränkt war. Sein Blick fühlte sich wie ein Laserstrahl auf ihrer Haut an. Ihr war, als ginge ein Stromstoß durch ihren Arm. Als er den Blick hob und sie ansah, spürte sie das gleiche Kribbeln auf ihrem Gesicht und in ihren Augen. »Es gibt zwei Möglichkeiten, Kummer und Leid zu verarbeiten«, sagte er. »Die eine besteht darin, sich zu öffnen – die Menschen und die Welt mehr als jemals zuvor zu lieben, weil man erkennt, wie kurz das Leben sein kann und wie kostbar es ist. Und die andere …«
    Agnes wartete gespannt. Sie dachte an ihre Familie, in der jeder seinen eigenen Kummer hatte, seit ihr früheres Leben durch den Gefängnisaufenthalt ihres Vaters ein jähes Ende gefunden hatte. Sie hatte sich von Gott und der Welt verlassen gefühlt, als hätten die Mächte des Bösen das Gute besiegt und warteten nur darauf, den Menschen, die sie liebte, noch mehr Leid zuzufügen.
    »Die andere Möglichkeit ist schlecht«, warf sie ein. »Man öffnet sich nicht, fühlt sich ausgeschlossen und einsam. Abgeschnitten von jeder Hilfe. Lebt in einer Welt, die ringsum dunkel ist.«
    »Ja. Wie im Gefängnis.«
    Es versetzte Agnes einen Stich, wenn sie an ihren Vater dachte, hinter den Mauern von Portlaoise, eingesperrt, weit entfernt von den Menschen, die er liebte. Was wusste Brendan darüber?
    »Meinst du ein echtes Gefängnis? Mit Gitterstäben und Schlössern?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine ein Gefängnis, in das man sich selbst einsperrt. In so einem Gefängnis kann jeder landen. Jeder. Wenn man das Leben nur noch mit Drogen erträgt, oder im Rausch, wie meine Eltern. Man errichtet unsichtbare Mauern, schottet sich in seinem Elend ab, bis man nichts anderes mehr sieht. Man ist dort alleine mit seinen Dämonen; die Menschen, die dich lieben, können nicht hinein und die Dämonen nicht hinaus.«
    »Ein solches Gefängnis haben deine Eltern nach Paddys Tod errichtet?«
    »Mehr oder weniger. Hin und wieder machen sie den Versuch, vom Alkohol loszukommen, aber sie werden immer wieder rückfällig. Das ist einfacher. Man verliert jeden Sinn für die Realität, wenn man sich auf diese Weise abkapselt, so dass einem das wirkliche Leben unerträglich erscheinen kann. Sollten meine Eltern irgendwann beschließen, ernsthaft mit dem Trinken aufzuhören, sind sie gezwungen, der Realität ins Auge zu sehen. Dass Paddy tot ist. Dass ihr leiblicher Sohn tot ist und ich lebe.«
    »Du bist genauso ihr Sohn. Auch wenn sie dich adoptiert haben …«
    »Ich wünschte, sie würden es auch so sehen.«
    »Du bist ein Ire, wie er im Bilderbuch steht. Das sieht man gleich an den roten Haaren.«
    »Stimmt. Darauf wurde Wert gelegt. Dass die vermittelten Kinder irisch aussahen, war eine Grundvoraussetzung für Catholic Charities and Adoption Services; das erfuhr ich von meinen Eltern, als sie nach Paddys Erkrankung mit der Wahrheit herausrücken mussten. Bevor sie zur Flasche gegriffen und sich abgekapselt haben. Die Zeit geht an den Menschen vorüber, die eingesperrt sind …«
    »Ich weiß.« Agnes senkte den Kopf, dachte an ihren Vater. So viel gemeinsame Zeit, die sie verpasst hatten, immer noch verpassten …
    »Wie gesagt, ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, wie es dir geht«, sagte Brendan abrupt. »Und wegen dem, was du in der Nacht zu mir gesagt hast, in der Notaufnahme.«
    Agnes lächelte unsicher. Was hatte sie zu ihm gesagt? Sie versuchte sich zu konzentrieren, sich zu erinnern. Da war das grelle Licht, das sie geblendet hatte, die Ärzte, die ihre Kopfwunde nähten, die hämmernden Kopfschmerzen, ein Pochen in den Schläfen, als drohte ihr der Schädel zu platzen. Wie sie geweint hatte, ihre Eltern bei sich haben wollte. Doch dann war da nur noch Dunkelkeit gewesen, ein Tunnel, das Gefühl zu fallen. So musste sterben sein.
    Vielleicht hatte ihr Herz stillgestanden. Schwärze ringsum. Eine Stimme, eine helle, klare Stimme. Was hatte sie gesagt? Und was hatte sie erwidert?
    »Du willst also Arzt werden«, begann sie. »Einer … der auf Kinder spezialisiert ist, auf die Behandlung von Leukämieerkrankungen?«
    »Nein. Ich möchte Psychiater werden. Familientherapeut.«
    »Aber Paddy …«
    »Paddy ist tot. Meine Eltern und ich leben noch. Wir müssen mit einem schweren Schicksalsschlag fertig werden, genau wie du und deine Familie. Ich möchte versuchen, die Lebenden am Leben zu erhalten, will verhindern, dass sie sich in ihr Gefängnis zurückziehen und

Weitere Kostenlose Bücher