Wie Sand in meinen Händen
stattdessen zeigte ihre Tochter nur auf das Telefon und schüttelte den Kopf.
»Bedaure, Brendan. Sie ist da, aber sie spricht dienstags nicht. Und heute ist Dienstag.«
Er lachte. »In Ordnung. Hört sie zu, auch wenn sie selbst nicht redet?«
»Ja.« Honor beobachtete, wie Agnes’ Augen aufleuchteten.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie ans Telefon zu holen?«, fragte Brendan.
»Nicht im Geringsten.« Honor reichte Agnes den Hörer und nahm ihren Malerkittel. Als sie den Raum verließ, um in ihr Atelier zu gehen, saß Agnes stumm da mit dem Telefon am Ohr und streichelte Sisela mit der freien Hand.
Kaum hatte sie ihr Atelier betreten, eilte Honor auch schon zu ihrer Staffelei. Sie entfernte die Abdeckung von der Palette und betrachtete das angefangene Bild. Johns Augen bedurften einer Änderung. Sie wirkten zu ruhig, ohne das Ungezähmte, Feurige, an das sie sich zu erinnern glaubte. Mit klopfendem Herzen begann sie zu arbeiten.
Das Hämmern, das über den Kamm des Hügels zu ihr drang, stammte von John; er war immer noch unten am Strand. Das Geräusch des Metalls, das den Felsen spaltete, ging ihr durch Mark und Bein. Der Findling war zerstört, nun sollte aus den Trümmern offenbar etwas Neues entstehen. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Meisterwerk daraus erwachsen, welcher Phönix sich aus der Asche erheben würde.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Bild, setzte den Pinsel an. Noch einen Hauch Blau für Johns Augen, um seinen Blick eindringlicher zu machen. Aber es reichte nicht aus. Vielleicht war das Blau zu weich – sie fügte einen Tupfer Schwarz hinzu, vermischte die Farben mit dem Spachtel. Nun war die Klarheit verschwunden – sie hatte zu viel des Guten getan. Kein Bild konnte dem facettenreichen Wesen ihres Mannes gerecht werden. Sie hatte es versucht, wieder und wieder.
Wenn es ihr wenigstens gelingen würde, die Leidenschaft auf Leinwand zu bannen, die sein Leben bestimmte. Das Geheimnis schien in seinen Augen zu liegen. Die klare Farbe, der unverblümte Blick, die Art, wie der Himmel sich in ihnen spiegelte. Wie viel er auch von der Welt gesehen haben mochte, es war nie genug. Er war unersättlich, wollte fortwährend mehr – wollte überall hin, Eindrücke sammeln und nach Hause bringen, um Honor daran teilhaben zu lassen.
Was hatte Regis gesagt? Dass er die Welt mit Farbe füllte … Besser konnte man es nicht sagen. Das war John. Er gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein. Wenn sie hörte, wie er den Felsblock bearbeitete, fühlte sie sich mit ihm verbunden. Er war Teil ihrer Welt, entfaltete seine schöpferische Kraft an ihrem Strand, übertrug sie auf den Felsen, den er zuvor zertrümmert hatte.
Als sie nun seine Augen auf ihrem Bild betrachtete, schauderte sie. Genau das war das Schwierige daran. John war ein brillanter Bildhauer und Fotograf; er hatte seinen eigenen Weg entdeckt, die Welt zu erfahren und darzustellen. Doch ein Teil dieses Weges schloss auch den Felsen ein, den er im Verlauf einer einzigen Nacht in tausend Stücke zerschlagen hatte. Das war ebenfalls John …
Sie hörte Schritte auf dem mit Platten gedeckten Gehweg, und als sie den Blick hob, sah sie Bernie auf der Türschwelle stehen, die sie beobachtete. Ihr schwarzer Habit war staubig; offenbar war sie gerade aus dem Weingarten gekommen. Aber sie hielt einen Umschlag in der Hand, also musste sie in ihrem Büro gewesen sein …
»Alles in Ordnung, Bernie?«, fragte Honor beunruhigt.
»Mir geht es prima.« Als sie den großen, lichtdurchfluteten Raum betrat, blinzelte sie. Honor versperrte ihr instinktiv den Blick auf die Leinwand und lotste sie zu den Sesseln hinüber, die am Fenster standen.
»Was kann ich für dich tun? Möchtest du ein Glas Eistee?«
»Gerne. Ich war gerade im Weingarten und sterbe vor Durst.«
Honor ging zu dem kleinen Kühlschrank und holte den Plastikkrug heraus, den sie heute Morgen mit Tee gefüllt hatte. Sie füllte zwei hohe Gläser und reichte eines ihrer Schwägerin. »Red-Rose-Tee, eine halbe Zitrone, ein Spritzer Orangensaft, frische Minze aus dem Kräutergarten und eine kleine Flasche Ingwerlimonade«, sagte sie.
»Das Eistee-Rezept meiner Mutter.« Bernie kostete. »Es gibt nichts, was an einem Sommertag besser schmeckt.«
»Oder uns an die Kindheit erinnert.«
Bernie hob die Hand. »Bitte nicht. Für heute habe ich genug in Erinnerungen gekramt.«
»Hast du mit John gesprochen?«
»Mit Tom.«
»Oh.« Honor sah, wie Bernie den Kopf beugte.
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